Source: Iuventa Crew
Heute wird das Alarm Phone neun Jahre alt. Seit neun Jahren betreiben 300 Aktivist*innen auf beiden Seiten des Mittelmeers diese Notrufnummer für Menschen auf der Flucht. Nonstop, ohne Pause, 7 Tage die Woche, Tag und Nacht.
In diesen neun Jahren haben wir 7.192 Boote in Seenot auf den verschiedenen Fluchtrouten auf See unterstützt – in der Ägäis, im zentralen Mittelmeer, im westlichen Mittelmeer, im Atlantik und seit 2021 auch im Ärmelkanal. Und noch nie haben wir in einem Jahr so viele Boote unterstützt wie im Jahr 2023, 1.671 Fälle von Seenot und wir haben noch drei weitere Monate vor uns bis das Jahr zu Ende ist.
Wir haben unsere Notrufnummer am 11. Oktober 2014 gestartet. Wir wählten dieses Datum, weil dieser Tag der erste Jahrestag eines schrecklichen Schiffsunglücks in der maltesischen Such- und Rettungszone ist, bei dem mehr als 250 Menschen ihr Leben verloren. Sowohl die italienischen als auch die maltesischen Behörden wussten von dem Boot in Seenot, ignorierten es aber, bis es kenterte.
Das Alarm Phone sollte daher Menschen, die das Mittelmeer nach Europa überqueren, eine echte Notrufnummer bieten. Wir begannen eine Hotline, bei der ihnen zugehört wird und die ihre Stimmen verstärkt. Die ihren Rufen Gehör verschafft und Behörden unter Druck setzt, so dass Notrufe nicht ignoriert werden können, Pushbacks zu verhindern und Menschen nicht sterben zu lassen.
Seit 9 Jahren konnten wir in vielen Fällen nicht verhindern, dass Menschen auf dem Meer starben oder verschwanden. Wir versuchen immer, so lange wie möglich an ihrer Seite zu bleiben, aber manchmal riss irgendwann die Telefonverbindung ab und wir erfuhren später, dass die Menschen nicht überlebt haben. Hunderte von Angehörigen haben sich bis heute bei uns gemeldet, weil sie verzweifelt nach ihren Angehörigen suchen. Die Gewalt an den EU-Grenzen hallt in der ganzen Welt wider und bringt so viel Leid über so viele Menschen.
Das Meer ist ein flüssiger Friedhof und zugleich ein Ort der Auseinandersetzung.
In diesem Jahr haben wir bisher 144 Boote im Ärmelkanal, 154 im westlichen Mittelmeer und im Atlantik und 378 in der Ägäis unterstützt. Die meisten Anrufe erhielten wir aus dem zentralen Mittelmeer von 995 Booten, die aus Tunesien oder Libyen aufbrachen. Wir bekamen auch Notrufe von verschiedenen Landgrenzen, unter anderem aus der Evros-Region, von der Balkan-Route und aus den Grenzgebieten zwischen verschiedenen nordafrikanischen Ländern.
Die ununterbrochenen Ankünfte und hohen Zahlen zeigen, dass das EU-Grenzregime nicht abschreckt. Nach Jahrzehnten der Militarisierung der EU-Grenzen, der Auslagerung der Grenzregimes an Diktaturen und einer Normalisierung von unterlassener Hilfeleistung und Pushbacks belegen sie, dass sich Menschen unerschrocken weiterhin auf den Weg machen.
Auch die Solidarität auf See geht weiter. Trotz der zahllosen Versuche, Aktivist*innen und die zivile Seenotrettung zu kriminalisieren, kehren diese immer wieder in das zentrale Mittelmeer zurück und sind unermüdlich mit Such- und Rettungsaktionen beschäftigt.
Das Mittelmeer mit seinen verschiedenen Routen bleibt ein umkämpfter Raum, in dem sich Menschen faktisch ihre Bewegungsfreiheit nehmen.
Trotz aller Widrigkeiten und Barrieren, trotz der Gewalt an den Grenzen und der Militarisierung, ungeachtet fehlender staatlicher Seenotrettung oder Kriminalisierung hören Menschen nicht auf, das Mittelmeer zu überqueren, Grenzen zu überwinden und Europa auf eigene Faust zu erreichen!
In einer Zeit, in der sich ein rassistischer Diskurs über Migration in Europa und weit darüber hinaus ausbreitet, müssen wir unsere Formen der Solidarität mit den Menschen auf der Flucht vervielfachen und gemeinsam gegen die Gräuel an den Grenzen kämpfen.
Wir werden weiterhin am Telefon sein, wenn es klingelt. Tag und Nacht. Wir werden den Anruf annehmen und sagen:”Hallo mein Freund, hier ist das Alarm Phone”.
WIR KÄMPFEN SEIT NEUN JAHREN.
WIR SIND NOCH NICHT FERTIG.
WIR WERDEN WEITERMACHEN.
WIR WERDEN NICHT AUFGEBEN, BIS ES BEWEGUNGSFREIHEIT FÜR ALLE MENSCHEN GLEICH GIBT.
Alarm Phone
Oktober 2023
