Von Fethiye nach Rhodos. Keine Überlebenden

In Erinnerung an die 14 Menschen, die am 2. Januar 2020 im Ägäischen Meer ertrunken sind

Aegean Sea

Am 2. Januar 2020 wurde das Alarm Phone von einem Angehörigen über ein vermisstes Boot mit etwa 14 Menschen an Bord informiert. Das Boot hatte am Vortag Fethiye in der Türkei in Richtung der griechischen Insel Rhodos verlassen. Da eine Freundin unter den Vermissten an Bord war, war der Anrufer sehr besorgt. Alles, was er hatte, war der Screenshot einer GPS-Position, den die Freundin ihm gesendet hatte.

Da es uns nicht gelang, einen direkten Kontakt mit dem Boot herzustellen, um herauszufinden, ob sich das Boot in griechischen oder türkischen Gewässern befand, alarmierte das Alarm Phone die Küstenwachen auf beiden Seiten der Grenze. Die griechische Küstenwache war bereits über das Boot informiert, sie sagte, es sei von der türkischen Küstenwache abgefangen worden. Die türkische Küstenwache erklärte dagegen, es sei zwar eine Such- und Rettungsaktion gestartet worden, aber bis zu diesem Zeitpunkt sei kein Boot gefunden worden.

Zwei Tage später, am 4. Januar 2020, riefen Angehörige der Vermissten, darunter auch der Freund der uns zuerst alarmiert hatte, erneut beim Alarm Phone an. Sie hatten immer noch keinen Kontakt zu ihren Verwandten und waren sehr besorgt. Gleichzeitig berichteten bereits mehrere Medien über ein Schiffsunglück in der Ägäis, bei dem alle Passagiere ums Leben gekommen waren. Wenig später wurden die schlimmsten Befürchtungen der Verwandten wahr: Das Boot, das bei dem Schiffsunglück gesunken war und später von der türkischen Küstenwache gefunden wurde, war dasselbe Boot, mit dem die 14 vermissten Menschen versucht hatten, Europa zu erreichen.

Nach und nach wurden die Ertrunkenen geborgen. Soweit wir wissen, konnte eine*r der Vermissten bis heute nicht gefunden werden. Da niemand die Überfahrt nach Europa überlebte, kann bis heute niemand genau sagen, wie vielen Menschen durch das Unglück ihr Leben genommen wurde.

Für die meisten Familien und Freund*innen war es sehr schwierig und teilweise unmöglich, die zuständigen Behörden in der Türkei zu erreichen, um herauszufinden, ob ihre Angehörigen unter den Identifizierten waren. Sowohl aktuell in Syrien lebende Verwandte als auch Verwandte mit Aufenthaltsgenehmigung in Europa erhielten keine Visa, um ihre Angehörigen zu identifizieren.

In mehreren Telefonaten mit uns sprachen die Verwandten von dem Gefühl des Gefangenseins in Ungewissheit, Hoffnung, Angst und Trauer. Ein Vater, der bei diesem Schiffsunglück zwei Söhne verloren hatte, hoffte bis zuletzt, dass sie gerettet wurden. Seine Söhne hatten Ihm vor ihrer Abfahrt gesagt, dass sie hoffen nach ihrer Ankunft in Europa das Silvesterfeuerwerk in der Türkei von Griechenland aus zu sehen.

Wir denken an die Trauer des Freundes, der das Alarm Phone zuerst alarmiert hatte. Er muss jetzt damit leben, als letzte Nachricht seiner Freundin eine GPS-Position in der Ägäis zu haben – von einem Ort und zu einer Zeit, als sie noch am Leben war.

Im vergangenen Jahr haben wir gesagt, wir wünschen uns, dass die Europäischen Außengrenzen nicht länger ein kollektiver Friedhof für Nicht-Europäer*innen sein sollen, die auf der Suche sind nach Sicherheit und einem besseren Leben. Unsere Wünsche wurden nicht erfüllt. Wir begannen das letzte Jahr, 2020, mit einer schrecklichen Tragödie, die mindestens 14 Menschen das Leben kostete und unzählige trauernde Angehörige und Freund*innen zurückließ. Dieses Unglück ist für die Mehrheit der Menschen aus dem Globalen Norden nicht sichtbar und vielleicht nicht einmal relevant.

Dieses Europa ist nicht sicher! Nicht für Nicht-Europäer*innen. Menschenrechte und Flüchtlingsrechte haben jede Relevanz verloren. Um der Opfer willen müssen wir, die wir noch leben, gegen dieses Europa von Frontex, Grenzen und Mauern vorgehen. Wir müssen dafür kämpfen, ein Europa der Solidarität zu schaffen und das tödliche Anti-Migrations-Regime zu überwinden. Wir als Alarm Phone versprechen, – allen Einschüchterungsversuchen zum Trotz – auch weiterhin an der Seite von allen Menschen on the move zu stehen.

Heute erinnern wir als Alarm Phone an diejenigen, denen im vergangenen Jahr ihr Leben genommen wurde.

In Gedenken an:

Youland Hamdan und 13 weiteren Personen, deren Leben vor einem Jahr, am 2. Januar 2020, an der Grenze zu Europa endete.

Wir werden sie niemals vergessen.