Fünf Jahre
 Alarm Phone in der westlichen Mittelmeerregion

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Dieser Artikel erschien ursprünglich in “From the Sea to the City – 5 Jahre Alarm Phone

Welcome2Europe Info Guide: ‘Welcome-2Spain’ (2018). Photo: Alarm Phone Tangier

Jeder einzelne beim Alarm Phone eingehende Anruf bringt ganz unterschiedliche Geschichten mit sich, die es alle verdienen, in ihrer Gesamtheit betrachtet zu werden. In der westlichen Mittelmeerregion haben wir mit Hunderten von Menschen während ihrer Überfahrt gesprochen. Die Kontaktsituationen waren so vielfältig wie die Bedingungen selbst: Da gab es Reisende, die bei katastrophalen Wetterbedingungen in winzigen Schlauchbooten ruderten, bis hin zu Konvois von bis zu 80 Personen, die das Alborán-Meer mit dem Motorboot überquerten; Menschen, die in lebensbedrohlichen Situationen in Panik gerieten, und Anrufer*innen, die, während sie in Seenot waren, noch Kraft für Spässe mit den Alarm-Phone-Teams hatten.

Mit mehr als 58’000 Ankünften in Spanien war der Weg über das westliche Mittelmeer 2018 mit Abstand die am meisten frequentierte Route. Die EU-Grenzagentur Frontex warnte in diesem Zusammenhang davor, dass sie zum nächsten „Migrationskorridor“ nach Europa werden würde.[1] Von Juni bis Ende Oktober erreichten die Überfahrten ihren Höhepunkt, und das Alarm Phone begleitete eine aussergewöhnlich hohe Anzahl von Booten auf ihrer gefährlichen Reise; allein in der letzten Juliwoche 2018 waren es 91 Boote. Die Antwort auf diesen Anstieg war politische Repression. Auch wenn die Überfahrten im November 2018 zurückgingen, hielt die vergleichsweise hohe Zahl an Überfahrten bis zum Jahresende an.

Seenotrettung: Erfahrungen und neue Realitäten

Obwohl die meisten Boote von der marokkanischen Marine abgefangen werden, handelt es sich meistens um eine gute Zusammenarbeit zwischen den Alarm-Phone-Teams und der spanischen Rettungsorganisation Salvamento Marítimo (SM). Dennoch hat das Alarm Phone in zahlreichen Fällen, sogar in solchen, bei denen die genaue GPS-Position des Bootes zur Verfügung stand, ein zu geringes Engagement sowohl der spanischen als auch der marokkanischen Behörden festgestellt. Teilweise mussten die Reisenden mehr als einen Tag unter schwierigen Bedingungen ausharren und es teilweise selbst schaffen, zum Ufer zurückzupaddeln, da keine Hilfe kam.

Das Alarm Phone verständigt die zuständigen Behörden kontinuierlich über Boote in Seenot, wobei konkrete Reaktionen nicht selten ausbleiben. Manchmal endet diese Politik der Ignoranz tödlich: Am 23. Dezember 2018 versuchten elf Personen die Überfahrt nach Spanien und kontaktierten das Alarm Phone. Mehrfach versuchten wir die spanische Küstenwache zu erreichen, jedoch ohne Erfolg. Viele Stunden später verloren wir den Kontakt zum Boot. Auch wenn die Reisenden offiziell als vermisst gelten, sind sie zweifellos im Mittelmeer ertrunken.[2]

Die sozialistische Regierung in Spanien hat es sich zum Ziel gesetzt, die Ankünfte in Spanien über die westliche Mittelmeerroute dras
tisch zu reduzieren. Im Zuge grundlegender Reformen der SAR-Operationen im Sommer 2018 wurde die Guardia Civil zur führenden Behörde für
spanische SAR-Operationen. Diese Reform bedeutet vor allem eine Militarisierung des ehemals zivilen Rettungsdienstes. Zu diesem Zeitpunkt
stellte SM das aktive Patrouillieren in der spanischen SAR-Zone ein und
verweigerte häufig die Fahrt in die marokkanische SAR-Zone. Ausserdem
wurden das Personal sowie die Marine- und Luftfahrtgeräte erheblich
reduziert, und nicht selten blockiert SM ganz konkret Boote und wartet,
bis die marokkanische Marine eintrifft, um die Menschen nach Marokko
zurückzubringen. Darüber hinaus hat SM aufgehört, über laufende Rettungsaktionen zu twittern. Das Ergebnis ist, dass unterstützende Akteure, wie z. B. das Alarm Phone, keinen Zugang zu relevanten Informationen
mehr erhalten. Diese neuen politischen Entwicklungen haben zweifellos
zum Tod von Menschen geführt.

Pushbacks und der Ausbau der Landgrenzen

Von den kleinen spanischen Inseln aus finden eindeutige illegale Pushbacks nach Marokko statt, wie etwa von Perejil am 17. März 2019.[3] Auch an den Landesgrenzen der spanischen Kolonien Ceuta und Melilla werden weiterhin illegale Pushbacks und sogenannte „Expressdeportationen“ durchgeführt, wie am 22. August 2019 aus Ceuta[4] und am 21. Oktober 2019 aus Melilla.[5] Die Grenzbefestigungen der Exklaven werden kontinuierlich verstärkt und erweitert. Kürzlich wurde jeweils ein neuer Zaun auf der marokkanischen und der spanischen Seite an der Grenze zu Ceuta errichtet und die Investitionen in Sicherheitstechnik auf spanischer Seite erhöht. Seit 2015 kommt es im Norden Marokkos vermehrt zu bis heute anhaltenden Repressionswellen, die mit der Zerstörung vieler migrantischer Camps in der Nähe der Exklaven durch marokkanische Ordnungskräfte einhergingen und die Zahl der Ankünfte auf dem Landweg reduzierten. Doch die Gewalt hält die Menschen nicht generell davon ab, ihr Recht auf Bewegung praktisch umzusetzen. Sie nehmen es wahr, indem sie sogenannte „Angriffe“ auf die Zäune kollektiv organisieren, so etwa im Juli[6] und August 2018[7] an der Grenze zu Ceuta sowie an der Grenze zu Melilla im Oktober 2018[8] und Mai 2019.[9]

Repression und Abschreckungspolitik

Ähnlich wie in den Vorjahren haben die marokkanischen Behörden gewaltvolle Festnahmen und Repressionen gegenüber Migrant*innen verstärkt, sobald die Ankünfte in Spanien Unmut bei den europäischen Partnern auslösten. Als Reaktion auf den Anstieg der Überfahrten über das westliche Mittelmeer im Juni/Juli 2018 intensivierte das marokkanische Königreich erneut die Verhaftungen Schwarzer Menschen, unabhängig davon, ob sie über legale Papiere für Marokko verfügten oder nicht. Die Verhaftungswellen konzentrierten sich zunächst auf die Zentren der Transitmigration, etwa Tanger und Nador. Später weiteten die Ordnungskräfte den Radius auf Städte im Landesinneren aus. Nach Angaben der antirassistischen Organisation GADEM wurden allein zwischen Juni und Juli 2018 mehr als 6500 Menschen verhaftet und in den Süden Marokkos abgeschoben.[10]

Diese gewalttätigen und willkürlichen Verhaftungen werden kontinuierlich fortgesetzt und sind bis heute alltägliche Realität. Viele Alarm- Phone-Aktivist*innen und befreundete Aktive in Marokko wurden mehrfach in Richtung Süden nach Tiznit, Errachidia oder Agadir abgeschoben. In diesen Städten sitzen Tausende Menschen fest und leben unter prekären Begingen in provisorischen Lagern, oft in der Nähe von Bahnhöfen. Zu unterstreichen ist in diesem Zusammenhang, dass auch Abschiebungen in die Herkunftsländer in den letzten Jahren zugenommen haben.

Die Berichte inhaftierter Personen machen auf die Verletzung grundlegender Rechte aufmerksam. Zentral dabei sind die kontinuierliche Gewalt durch die Polizei sowie die Entwendung persönlicher Wertgegenstände. Die Gefangenen werden in Höfen, Hallen oder kleinen Zellen unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und warten dort gezwungenermassen auf ihre Abschiebungen. Bei dieser Form der Inhaftierung verlieren sie zusätzlich die nach marokkanischem Recht zuerkannten Grundrechte. Und dennoch geben die meisten nicht auf, sondern kehren in den Norden zurück, um über die hochgerüsteten Zäune oder das Meer nach Europa zu gelangen.

Politische Beziehungen zwischen der EU und Marokko

Nach dem enormen Anstieg der Ankünfte in Spanien im Sommer 2018
reagierte die EU prompt und verstärkte die Zusammenarbeit mit Marokko im Bereich der Grenzkontrollen. Es handelt sich dabei um die Weiterentwicklung eines Bündels diverser Kooperationen, das bereits seit
Ende 2007 auf verschiedenen EU/Afrika-Gipfeln vorangetrieben wurde.[11]Der EU-Nothilfe-Treuhandfonds für afrikanische Länder (EU Emergency
Trust Fund for Africa, EUTF for Africa) wurde 2018 erneut genutzt, um
Mobilität zu kontrollieren und einzugrenzen. Hierbei handelt es sich vor
allem um den Ausbau der EU-Aussengrenze, der auf eine grundlegende
Externalisierung des Migrationsmanagements setzt. Ohne Zweifel sind
die brutalen Razzien und Abschiebepraktiken Marokkos auf den migrationspolitischen Druck der EU zurückzuführen. Doch die politischen Beziehungen zwischen Europa und Marokko sind umkämpft und vielschichtig:
 Die Idee der Externalisierung von Asylverantwortlichkeiten unter dem Titel „regionale Ausschiffungsplattformen in relevante Drittländer“, nur ein Beispiel für die Einmischung der EU in die Souveränität der nordafrikanischen Staaten, wurde von der marokkanischen Regierung wie auch von Tunesien und Ägypten vehement zurückgewiesen. Auch das neue Zentrum der Afrikanischen Union (AU) zur Beobachtung internationaler Migrationsbewegungen und -politiken – das African Observatory for Migration and Development (OAMD) –, von Marokko vorgeschlagen und selbst besetzt, ist eine Strategie Marokkos, sich innerhalb und ausserhalb der AU in Sachen Migrationskontrolle autonomer zu positionieren. Projekte wie das OAMD lassen erahnen, inwiefern Marokko seine Position an der europäischen Grenze durchaus nutzt, um eigene politische Positionen zu stärken. Es wäre daher zu einfach, die Interessen des Königreichs Marokko auf die finanziellen Vorteile durch die Zusammenarbeit mit der EU im Bereich der Migrationspolitik zu reduzieren. Es geht um viel mehr: den wirtschaftlichen und politischen Kampf um die Westsahara und den Versuch Marokkos, sich im internationalen politischen Kontext innerhalb und ausserhalb der AU eine starke Position zu erarbeiten. Schliesslich sind die Beziehungen zur EU und das Engagement Marokkos im Bereich der Grenzsicherheit immer mit den perspektivischen Möglichkeiten und Spielräumen hinsichtlich der Verhandlungen um Mobilität der eigenen Bevölkerung verbunden.[12]

Alarm Phone in der Region

Viele Menschen stellen sich dem brutalen Grenzregime trotz widriger Umstände konstant entgegen, etwa durch die Überwindung des Mittelmeeres, aber auch durch Formen des Widerstandes in Marokko selbst. So setzen sich Verbände und Einzelpersonen in Marokko ohne Unterlass für Bewegungsfreiheit und die Durchsetzung von Grundrechten ein. Auch die lokalen Gruppen des Alarm Phones werden im ganzen Land stetig ausgebaut und vertiefen die Beziehungen zu lokalen Vereinen, Aktivist*innen und vor allem zu Communities im Transit. Wir haben in den letzten zwei Jahren verschiedene migrationspolitische Konferenzen, politische Aktionen und Gedenkfeiern in Marokko organisiert und unterstützt. Wichtiger Teil der Alarm-Phone-Arbeit vor Ort ist das Teilen von Informationen mit den Communities der Reisenden zu Risiken und Sicherheitsmassnahmen auf hoher See. Wir bleiben in engem Kontakt mit den Communities und solidarischen Netzwerken, auch etwa nachdem Überfahrten gescheitert sind, und dokumentieren die Geschehnisse in Follow-up-Berichten. Dabei suchen wir nach vermissten Personen, dokumentieren Verhaftungen und gewalttätige Angriffe, sammeln Zeugenaussagen, identifizieren Tote in Leichenhallen und geben relevante Informationen an Freund*innen und Verwandte betroffener Personen weiter. Mit dem Alarm Phone haben Aktivist*innen aus allen Regionen, Communities und anderen sozialen Kämpfen in Marokko ein wichtiges Netzwerk aufgebaut, um Rechtsbrüche und politische Entwicklungen zu diskutieren und sich gegenseitig solidarisch zu unterstützen.

Wir nutzen unsere vor Ort gewonnenen Erfahrungen, um die europäische Öffentlichkeit konstant zu informieren und die brutalen Realitäten derjenigen anzuprangern, die sich täglich dagegen auflehnen. Im
medialen Diskurs sind Berichte über die westliche Mittelmeerroute aus
Sicht der Betroffenen immer noch erstaunlich selten. Das Alarm Phone
ist eine wichtige Plattform und Kanal für eben diese Stimmen, Berichte und Forderungen. Da sich keine Seenotrettungs-NGOs im westlichen Mittelmeerraum engagieren, ist das Alarm Phone nicht nur ein kritischer
ziviler Zeuge, sondern auch ein entscheidender Akteur, wenn es um die
Rettung von Menschen geht. Ohne die mutige Arbeit der Alarm-Phone-Aktivist*innen vor Ort und den Druck unserer Schichtteams würden viele Suchaktionen nicht aufrechterhalten und viele Rettungsaktionen gar
nicht erst eingeleitet werden.

 

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[1] Deutsche Welle (2018): https://www.dw.com/en/eus-frontex-warns-of-new-migrant-route-to- spain/a-44563058, IOM International (2018),
Mediterranean Update: https://www.iom.int/news/mediterranean-migrant-arrivals-reach-86436-2018-deaths-reach-1783 [15/07/19] 


[2] 116 Personen wurden illegal ausgewiesen, http://watchthemed.net/index.php/reports/view/1112 [15/07/19] 


[3] https://www.eldiario.es/desalambre/Gobierno-supervivientes-naufragio-Perejil- Marruecos_0_900111052.html [15/07/19]

[4] 55 Personen wurden illegal ausgewiesen, siehe: https://www.euractiv.com/section/justice-home- affairs/news/migrants-who-stormed-morocco-spain-border-sent-back/ [15/07/19] 


[5] https://www.euractiv.com/section/global-europe/news/spain-returns-migrants-to-morocco-after- storming-of-melilla-enclave/ [15/07/19] 


[6] https://www.europapress.es/epsocial/migracion/noticia-ascienden-mas-millar-entradas-ceuta- via-terrestre-2018-salto-valla-600-migrantes-20180726161901.html [17/07/2019] 


[7] http://resistancerepublicaine.eu/2018/08/24/lespagne-expulse-les-116-migrants-ayant-force-sa- frontiere-a-ceuta/ [17/07/2019] 


[8] https://www.europe1.fr/international/espagne-quelque-200-migrants-entrent-dans-lenclave-de- melilla-un-mort-3783827 [17/07/2019] 


[9] https://www.dw.com/en/migrants-force-entry-in-spains-melilla-exclave/a-48710227-0 [17/07/2019] 


[10] https://mailchi.mp/808145bec8c4/note-expulsions-gratuites [15/07/19] 


[11] Die Investitionen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (European Neighbourhood Policy, ENP) 
mit Marokko zur Stärkung der Grenzsicherung belaufen sich auf 232 Millionen Euro (2014–2019). 
http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-6705_en.htm [15/07/19] 


[12] Weiterführend zu den Verhandlungen Marokkos mit der EU unter Einbezug postkolonialer 
Denkweisen siehe: El Qadim, N. (2017): EU-Morocco Negotiations on Migrations and the Decentring Agenda in EU Studies. In: Weier, S.; Woons, M. (Hg.): Critical Epistemologies of Global Politics. Bristol: E-International Relations Publishing. S. 134–152.