„Hello, my friend, I am from the Alarm Phone” - Wie wir unsere Stimmen nutzen, um Solidarität zu zeigen und Menschen auf Booten zu ermutigen

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Dieser Artikel erschien ursprünglich in “From the Sea to the City – 5 Jahre Alarm Phone

Foto: Mediterranea

Wenn wir mit Reisenden auf einem in Not geratenen Boot sprechen, haben wir nur unsere Stimmen und oft nur sehr kleine Zeitfenster, um zu kommunizieren. In allen drei Regionen des Mittelmeerraums gab es seit 2014 mehr als 2500 Telefongespräche und WhatsApp-Chats mit Menschen auf Booten. Einige dieser Gespräche haben wir sehr ausführlich dokumentiert, weil wir jede Information aufschreiben wollten, auch um loszuwerden, was wir gehört hatten, und um damit nicht allein zu bleiben. Andere Gespräche lassen sich in den Chats nachverfolgen, bis die Telefone kaputt gehen. Und wieder andere hinterliessen nur eine Spur in den Erinnerungen zweier Menschen. Dieser Artikel ist der Versuch, persönliche Erfahrungen darüber zu teilen, wie wir unsere Stimmen nutzen, um Solidarität zu zeigen, für kurze Zeit eine Beziehung aufzubauen und Menschen in Seenot zu stärken.

In den letzten fünf Jahren haben wir gelernt, dass kleine Dinge entscheidend sein können, um sich gegenseitig zu verstehen. Ein Gespräch mit „Hallo mein Freund“ zu beginnen und zu sagen, wer wir sind, ist selbstverständlich geworden. Auf diese Weise sagen wir „Willkommen“ in einem Moment, in dem alles blockiert zu sein scheint. Diese Begrüssung macht klar, dass wir weder die Polizei noch die Küstenwache sind. Du und ich sind es, die jetzt sprechen. Wir nehmen uns Zeit, um herauszufinden, was jetzt wichtig ist.

Manchmal haben wir Schwierigkeiten, uns gegenseitig zu verstehen – nicht nur wegen der Sprachbarrieren. Not und Todesangst können die Stimmen schrill und unverständlich machen. Panik kann Worte bedeutungslos machen. Eine der wichtigsten Aufgaben ist es daher, zuerst die Spirale der Angst zu durchbrechen, damit Sprechen und Verstehen möglich werden. Wir haben im Laufe der Zeit gelernt, dass viele Wiederholungen helfen können, wenn Menschen in Panik sind.

Der Angst zum Trotz sind wir überraschend oft in der Lage, tatsächlich ein Gespräch zu führen. Es gelingt uns manchmal, nicht nur die Fakten zu sammeln, die wir brauchen, sondern mit unserer Stimme ein Gefühl der Solidarität zu vermitteln. Ein Klang, der uns und den Reisen- den auch nach Beendigung der Kommunikation noch lange im Ohr hallt.

Manchmal gibt es kurze Gespräche, die nur drei Minuten oder weniger dauern – wie wenn eine Frau in das Telefon ruft: „Halleluja, sie sind schon da! Wir sind in Sicherheit!“ Der Klang des Siegesrufs „BOOOOZA“, wenn eine Gruppe gerade in Spanien angekommen ist, ist etwas, was die meisten von uns nie vergessen werden. Manchmal kommen im Chat ein „Thank you, we are safe“ mit einem Daumen-hoch oder ein paar Smileys.

Manchmal ist es auf einmal still. Der Akku ist leer, oder das Telefon wurde ins Meer geworfen, um zu vermeiden, dass die Küstenwache identifizieren kann, wer telefoniert hat. Manchmal wird auch die Stimme selbst durch das Wasser des Meeres zum Schweigen gebracht. Das sind die Momente, in denen die Stille dein Herz brechen kann.

Wir bauen Beziehungen auf – die meisten von ihnen dauern nur bis zum Ende des letzten Anrufs. Selten und nur wenn wir Glück haben, haben wir die Zeit, uns zu verabschieden. Uns zu verabschieden, um „Willkommen in Europa“ oder „Beim nächsten Mal, inshallah, wirst du es schaffen“ zu sagen – und Kraft zu wünschen und mit unserer Stimme so viel Energie wie möglich weiterzugeben.

Die Nacht vom 29. auf den 30. Mai 2019 werde ich nie vergessen. Wir hatten die Nachtschicht begonnen, und das vorherige Schichtteam hatte uns einen Notfall im zentralen Mittelmeer übergeben. Ein Boot mit 90–100 Personen, darunter etwa 20 Frauen und 15 Kinder, hatte es fast bis zur maltesischen Such- und Rettungszone geschafft. Tagsüber waren sie bereits von dem NGO-Flugzeug „Moonbird“ entdeckt worden. Ausserdem kreiste ein Militärflugzeug über dem Boot, und ein Schiff der italienischen Marine mit der Bezeichnung P 490 war in der Nähe. Dennoch hatten weder Italien noch Malta bisher auf den Notruf des Bootes und unseren Hinweis auf die lebensgefährliche Situation, in der sich die Reisenden befanden, reagiert. Wir setzten uns deshalb erneut mit dem Boot, das bereits Stunden zuvor einen Notruf abgesetzt hatte, in Verbindung:

23:47 (29.5.2019): Ich habe mit den Menschen auf dem Boot gesprochen. „Wir sind erschöpft. Einer der Schläuche verliert Luft, Wasser tritt in das Boot ein, wir werden nicht mehr lange überleben… Wenn wir die ganze Nacht warten müssen, wird niemand von uns überleben.“

00:13 (30.5.2019): Ich habe wieder mit den Menschen gesprochen. „Es ist zu kalt. Die Kinder leiden unter der Kälte, wir haben Angst um sie. Sie sind nass und eiskalt. Es gibt fünfzehn Kinder, das jüngste ist 9 Monate alt, dann 3 Jahre, 4 Jahre… Wir haben versucht, die Kinder in die Ecke des Bootes zu bringen, wo weniger Wasser ist. Aber das Boot ist nicht stabil, also ist es schwierig, sich darin zu bewegen. Mit uns sind auch etwa 20 Frauen. Die Frauen sind stark, aber einer schwangeren Frau geht es sehr schlecht.“

Wir sprechen auf eine Weise, die sich vertraut anfühlt, als ob wir uns schon lange kennen würden. Stunden später, als ich das Telefon auf Lautsprecher umschalte, weil ich es nicht mehr ertrage, alleine zuzuhören, weist mein Schichtpartner darauf hin, dass die Stimme des Mannes am Telefon wie die Stimme eines Freundes klingt – eines alten Freundes, den wir im Kampf gegen Abschiebungen in einer Gruppe von selbst organisierten Geflüchteten getroffen hatten. Die Stimme am Telefon klingt wie eine jüngere Version der Stimme unseres Freundes, und es ist, als baute sie eine Brücke der Freundschaft.

00:47 Wir erreichen das Boot wieder. Sie sind wirklich erschöpft. „Einige Leute sind in Panik. Einige Leute sind verrückt vor Angst.“ Ich treffe die Entscheidung bei der Wahrheit zu bleiben und ihm zu sagen, dass die Küstenwache uns nicht sagt, wann sie zu ihrer Rettung kommen wird.

Er sagt: „Das ist nicht gut für uns, sie werden uns nicht retten. Schlechtes Zeichen.“ Er stimmt zu, dass es dennoch wichtig ist, den Menschen Hoffnung zu geben und mehr Panik zu vermeiden, um die Situation nicht noch gefährlicher zu machen.

01:20 Nochmals mit dem Boot gesprochen – wieder können wir nicht versprechen, wann die Küstenwache kommt. Er sagt: „Es ist so verdammt unmenschlich, was sie mit uns machen. Wir sind seit mehr als einem Tag hier auf dem Meer. Sie waren mit Flugzeugen, Hubschraubern und allem drum und dran da. Sie wissen, wo wir sind, und sie warten nur da- rauf, dass die Libyer morgen kommen, um unsere Leichen einzusammeln. Diejenigen, die noch am Leben sind, werden dann vielleicht auch ins Wasser gehen, weil sie lieber sterben wollen, als nach Libyen zurückgebracht zu werden. Warum können sie nicht zulassen, dass ein Fischerboot uns rettet und zumindest vermeiden, dass Menschen sterben? Sie können uns in jedes beschissene Gefängnis bringen. Aber diese Situation hier ist so unmenschlich, du kannst dir nicht vorstellen, wie wir leiden.“

Wir sagen ihm, dass wir bis zum Ende bei ihnen bleiben werden, egal was passiert. Wir versprechen, dass wir die Küstenwache erneut anrufen und die Öffentlichkeit informieren, um noch mehr Druck auf die Küstenwachen und die Italienische und Maltesische Regierungen aufzubauen. Er dankt uns dafür, dass wir bei ihnen sind.

04:50 „Die Sonne ist da, aber wir sind immer noch allein, wir können kein Boot sehen.“

Er klingt extrem erschöpft, es ist ruhig im Hintergrund, als hätten die Menschen nicht einmal mehr Energie für Panik. Es ist eine tödliche Stille, und wir können nur wiederholen, dass wir bei ihnen sind.

07.50 Boot hat wieder angerufen. „Wir sind so müde.“ Wir sagen ihnen, dass wir uns in Italien an Parlamentarier, Medien usw. gewandt haben, um durchzusetzen, dass sie endlich gerettet werden. Wir sagen auch, dass ein Frachtschiff 1–2 Stunden entfernt sei und dass wir Druck ausüben würden, damit es seinen Kurs ändert und rettet.

08.00 Erneuter Anruf von dem Boot. „Ein 5-jähriges Mädchen ist gestorben.“ Wir können die Leute im Hintergrund schreien hören. „Ein Schlauch verliert weiter Luft. Wir hoffen, dass das Boot uns noch erreichen kann.“

Es geschieht, was in solchen Situationen immer passiert: Wir wollen glauben, dass es nicht wahr ist. Dass die Menschen diese Informationen weitergegeben haben, um uns zu helfen, Druck zu machen. Die Hoffnung, dass das Kind nicht tot sei.

In diesem Fall konnten wir danach nicht herausfinden, was passiert ist. Der Tod des 5-jährigen Kindes wurde bisher nicht bestätigt, ob- wohl die Menschen nach der Ankunft sagten, dass mehrere Mitreisende während der Reise gestorben seien.

08:19 Die Leute vom Boot rufen erneut an: „Wir sehen ein Schiff. Es ist weit weg, aber groß. Es kommt von dort, wo die Sonne steht.“ Man spürt, dass die Menschen aufgeregt sind.

08:30 Weiterer Anruf: „Da steht P490 auf dem Schiff geschrieben.“ Wir weisen die Menschen in die Vorbereitung auf die Rettung ein.

09:05 Die Verbindung ist sehr schlecht, aber die Rettung beginnt. Er sagt: „Auf Wiedersehen“.

Die letzten Worte, die wir teilen, sind Wünsche: „Ich hoffe, dass ihr Italien sicher erreichen werdet. Pass auf dich auf! Auf Wiedersehen und ich hoffe sehr, wir sehen uns an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit – irgendwo in Europa.“

Willkommen, mein Freund, und auf Wiedersehen – ich hoffe, dass du eines Tages an einem sicheren Ort ankommen wirst, und vielleicht, wer weiß, treffen wir uns irgendwo auf der Straße ohne zu wissen, dass wir diese Erfahrung geteilt haben. Und vielleicht erinnert uns eines Tages die Stimme eines anderen Kämpfers für Bewegungsfreiheit an unseren gemeinsamen Kampf – eine Stimme, die wie die Stimme eines alten Freundes klingt.