Von Marroko bis Spanien und darüberhinaus: Kollektive Widerstände gegen eine tödliche Grenzkooperation

Carla Höppner, Corinna Zeitz

Die Kooperation zwischen Spanien und Marokko in der Migrationsbekämpfung kann als Paradebeispiel für Externalisierungspolitiken gesehen werden, welche die EU versucht, auch in anderen Regionen durchzusetzen. Trotz erhöhter Militarisierung schaffen es 2016/2017 mehr Menschen als in den Vorjahren sowohl über die Zäune von Ceuta und Melilla als auch über den Seeweg von Marokko nach Spanien zu gelangen.

Weiterhin finden immer wieder Verfolgungen von in Marokko lebenden Transit-Migrant_innen statt. Personen werden aus ihren Wohnungen geholt, Camps werden von Militärs in Brand gesetzt und Menschen werden willkürlich verhaftet und in den Süden des Landes abgeschoben.

Am 12.12.2016 startete in Marokko die zweite Regularisierungskampagne. In der ersten Kampagne von 2014 wurden 25.000 Personen von insgesamt 28.000 Antragsteller_innen marokkanische Aufenthaltspapiere ausgestellt. Sie ermöglichen es, legale Arbeitsverhältnisse einzugehen, schützen aber generell nicht vor der Repression, der vor allem subsaharische Migrierende ausgesetzt sind.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Verfolgungswelle zu Beginn des Jahres 2017 die Abreise nach Europa von Vielen motiviert. Von Januar bis August gelangen 2.476 Personen im Jahr 2016 über den Seeweg nach Spanien, 8.385 Personen sind es in der gleichen Zeitspanne im Jahr 2017. Über die hochmilitarisierten Zäune nach Ceuta und Melilla schaffen es im Jahr 2016 insgesamt 2.096 subsaharische Geflüchtete.

 

Ceuta und Melilla

Im Jahr 2016 erreichen trotz der hochtechnologischen Überwachung 1771 Menschen Ceuta durch die Überwindung der mit messerscharfen Klingen versehenen Grenzzäune. Auch im Jahr 2017 bleibt Ceuta angesichts der spektakulären kollektiven Ankünfte subsaharischer Migrant_innen im Fokus des Migrationsgeschehens. Im Februar 2017 schaffen es mittels kollektiver Organisation und durch Strategien der Umwanderung von Überwachungstechnologien sogar 842 Menschen in die Enklave Ceuta. Danach wird die Migration vorerst durch erhöhte Überwachung blockiert. Der Innenminister Spaniens möchte zukünftig Drohnen an der Grenze einsetzen und die Guardia Civil fordert eine Verstärkung der Einsatzkräfte.

Marokko setzt die Grenzsicherung zu Spanien immer wieder als politisches Druckmittel ein. Bei Konflikten mit der EU wie z.B. dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, die von Marokko besetzte West-Sahara aus einem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Marokko auszuschließen, wird offen mit der Einstellung der Grenzüberwachung gedroht. Der Landwirtschaftsminister von Marokko verkündete nach dem Urteil: “Warum sollten wir damit fortfahren, den Gendarmen zu spielen?”. Aber wie auch in den anderen Grenzregionen bevorzugt es die EU mit Diktaturen zu kooperieren anstelle mit den Menschen, die vor ihnen fliehen.

Am 20.2.17 beim Versuch über die Zäune nach Ceuta zu gelangen, werden mehr als 100 Personen, darunter ein Mitglied des Alarm Phones nach der Grenzüberwindung rechtswidrig zurückgeschoben und in Marokko verhaftet. Nach diesem „Pushback“ werden die Gefangenen mehrere Monate ohne rechtlichen Beistand in Gefängnissen festgehalten und einige dann zurück in die Heimatländer abgeschoben.

Dennoch demonstrieren die massiven Überquerungen über die Zäune von Ceuta, dass die Grenzen durch kollektiven Zusammenhalt der Migrierenden überwindbar sind. Am 1.8.2017 setzen sich die subsaharischen Communities erneut mit 81 Überquerungen über die Zäune durch.

Am 7.8.2017 überwinden 187 Personen die Grenze direkt über den Kontrollposten, indem sie diesen schlicht und einfach “überennen”.

2016 sind mit 325 Personen vergleichsweise wenige Menschen über die Zäune nach Melilla gekommen. In der Enklave kommen hingegen 2.500 Syrer_innen an, die Asyl am Grenzposten beantragt haben. 2017 ist Melilla auch Ziel von Verfolgten aus der Rif-Bewegung, die vor Repression flüchten und in Spanien Asylanträge stellen.

 

Der Seeweg

Über den Seeweg kommen im Vergleich zu den Vorjahren wieder mehr Personen von Marokko nach Spanien. 5.302 Ankünfte über das Meer werden im Jahr 2015 gezählt, 8.048 im Jahr 2016. Allein bis August 2017 werden bereits 8.385 Ankünfte mit Booten registriert. Insgesamt sind es nun auch mehr nordafrikanische Migrierende. 2016 sind 31 % der Bootsmigrierenden aus Algerien und Marokko, 69% sind subsaharischer Herkunft. Im Juli und August 2016 gibt es fast 1000 Ankünfte an der andalusischen Küste.

Am 14.07.2017 erreichten 26 subsaharische Frauen und fünf Kinder eine der unbewohnten spanischen Inseln Isla del Mar. Ihnen ist bekannt, dass es von den spanischen Inseln, die nah am marokkanischen Festland gelegen sind in der Vergangenheit bereits illegale Rückschiebungen gegeben hat. Deswegen rufen sie den Militärs der Insel immer wieder “Asyl!” entgegen. Die spanischen Medien berichten von dem Widerstand, so dass es die Gruppe der Frauen schließlich schafft, eine Aufnahme in Melilla/Spanien durchzusetzen.

In der Straße von Gibraltar werden im Jahr 2017 besonders viele Bootsfahrten vom Alarm Phone dokumentiert. Die Zusammenarbeit mit der spanischen Seenotrettungsorganiation Salvamento Marítimo (S.M.) ist von Fall zu Fall unterschiedlich. In vielen Situationen ist das Team hochengagiert, sendet Hubschrauber für die Suche auf See, rettet vielen Menschen das Leben und bringt sie nach Spanien.

Tag des Protests anlässlich des zweiten Jahrestages des ‘Tarajal Falls’ in Rabat, 6. Februar 2016Photo: Alarm Phone

Die Externalisierungs-Kooperation von S.M. mit der marokkanischen Marine Royale verursacht jedoch allzu oft tragische Ereignisse. Am 26.06 2016 wird das Alarm Phone Zeuge der tödlichen Abfang-Praxis in der Straße von Gibraltar: Ein Anrufer aus Marokko berichtet dem Alarm Phone in großer Sorge, dass sein Bruder am frühen Morgen in einem Boot mit acht Personen in Richtung Tarifa (Spanien) losgefahren ist. S.M. beauftragt die marokkanische Marine, dem Boot in Seenot zu assistieren. Das Alarm Phone kann anschließend mit einem Passagier des Bootes sprechen, der von tödlichen Konsequenzen berichtet. Das mit hoher Geschwindigkeit anfahrende Schiff der Marine Royale verursachte, dass das Boot der Migrant_innen kippte und die Reisenden ins Wasser fielen. Die Marine Royale rettete nur fünf Personen, eine senegalesische Frau und zwei Männer ertranken. Ihre Körper wurden nicht geborgen. Einer von ihnen war der Bruder des Anrufers. Die Überlebenden veröffentlichen zusammen mit dem Alarm Phone ein Statement in Gedenken an ihre verlorenen Freund_innen.[1] Viele unserer Anrufer_innen berichten von ähnlichen Vorkommnissen aus denen klar hervorgeht, dass die Marine Royale, der Kooperationsparter der EU, nicht als Seenotrettung sondern überwiegend als Migrationsverhinderer agiert.

Die Problematik der Kooperation zwischen S.M. und Marine Royale wird auch durch das Beispiel des Alarm Phones vom 11. 07. 2017 deutlich (siehe ‚Besonders bemerkenswerte Alarm Phone Fälle‘ in dieser Broschüre). Die spanische Seenotrettung geht in diesem Seenotfall davon aus, dass die Marine Royale das Boot gerettet hat. Als das Alarm Phone eine Person des Bootes anruft, um die Rettung bestätigt zu bekommen, erfahren wir, dass das Boot sich weiterhin in Seenot auf dem Meer befindet. Unser Schicht-Team informiert sofort S.M., die daraufhin eine neue Suche starten und alle Personen retten können. Auch an diesem Fall zeigt sich, dass die Abgabe der Rettungsverantwortung an die marokkanische Marine Royale fatale Folgen haben kann.

Das Alarm Phone wird oft Zeuge der alltäglichen Kooperation zwischen Spanien bzw. der EU und Marokko. Durch die tägliche Abfangpraxis von der Marine Royale werden den Reisenden ihre Rechte auf Asyl und Schutz verweigert. Die Abfangmaßnahmen führen darüberhinaus zu tödlichen Schiffbrüchen. Die Intervention des Alarm Phones als Hör- und Sprachrohr für die Reisenden in lebensbedrohlichen Situationen auf dem Meer ist immer wieder ausschlaggebender Faktor unserer Arbeit.

 

Selbstorganisierung

In Marokko agieren Mitglieder des Alarm Phones in verschiedenen Regionen des Landes. Sie stellen eine wichtige Grundlage für die Alarm Phone Arbeit dar. Sie sensibilisieren in den verschiedenen Communities über absolut notwendige Sicherheitsvorkehrungen für die riskanten Bootsüberfahrten und verteilen die Alarm Phone Nummer um tödliche Katastrophen zu verhindern.  Die Alarm Phone Gruppen und Einzelpersonen in den Städten Tanger, Ceuta, Tetuan, Nador, Oujda und Laayoune sind basisorganisiert. Sie beobachten und berichten von der Situation vor Ort. Des Weiteren organisieren sie politische Aktionen.

Die Alarm Phone Gruppe in Oujda ist beispielsweise Mitorganisator einer Karavane von Oujda nach Figuig am 25.06.2017. In Solidarität mit 50 im Grenzgebiet zwischen Marokko und Algerien blockierten Syrer_innen legt die Karavane 400 km zurück. Die 200 Teilnehmer_innen der Karavane treffen auf weitere 350 protestierende Bewohner_innen von Fuigig.

Die 50 syrischen Flüchtlinge waren nach einer Rückschiebung der marokkanischen Autoritäten fast zwei Monate lang in dem Niemandsland zwischen der marokkanischen und algerischen Grenze festgehalten worden. Im Juni 2017 konnten 28 dieser Personen endlich nach Marokko einreisen. Die anderen tauchten kurz vorher unter.

Die Alarm Phone Gruppe Ceuta gründet sich am 23.4.2016 nach einem erfolgreichen Protest gegen die regelmäßig stattfindenden Pushbacks. 119 Migrierende erreichen kleine Felsen direkt vor Ceuta. Um nicht illegaler Weise von der spanischen Guardia Civil nach Marokko zurück gebracht zu werden, protestieren sie lauthals. Daraufhin üben in Ceuta wohnhafte Aktivist_innen öffentlichen und polititischen Druck auf die Autoritäten aus. Alle 119 Personen werden nach der gemeinsamen Aktion in Ceuta aufgenommen und können ihr Recht, auf europäischem Boden nach Asyl zu fragen wahrnehmen.

 

Bewegungen

Am 6.2.2014 griff die Guardia Civil eine große Gruppe Migrierender an, die schwimmend nach Ceuta gelangen wollte. Hierbei wurden mindestens 14 Menschen getötet. Der 6.Februar hat sich mittlerweile als Protesttag etabliert.

400 wütende Demonstrant_innen versammeln sich am 6.2.2016 unter dem Motto “Stop the war against migrants” vor der spanischen Botschaft in Rabat um gegen die mörderische Grenzpolitik der Europäischen Union zu demonstrieren. Es ist das erste Mal in dieser Größenordnung, dass subsaharische Migrant_innen aus ganz Marokko zusammen kommen, um öffentlich für einen Wandel des europäischen Grenzregimes ihre Stimme zu erheben. Sie haben den 6.2.2014 in Tarajal teilweise selbst mit- und überlebt. Migrant_innen und solidarische Gruppen demonstrieren am gleichen Tag in Ceuta, Melilla, Madrid, Barcelona, Strasbourg, Berlin, Rom, Genua und Idomeni.

Im Jahr 2017 findet zum 3. Mal die Demonstation in Gedenken an die Toten von Tarajal in Ceuta statt. Dieses Jahr haben sich dem transnationalen Protest auch Selbstorganisationen in afrikanischen Ländern angeschlossen. Ein Unterstützungsnetzwerk für Menschen in der Wüstenregionen schließt sich in Niamey (Niger) dem Gedenktag an. In Edea (Kamerun) wird unter dem Aufruf von Voix des Migrants demonstriert. Kurz zuvor, im Januar 2017 wird in Spanien der Beschluss bekannt gegeben, dass die bereits eigestellten Verhandlungen gegen Beamten der Guardia Civil, die für die Toten am 6.2. verantwortlich sind, wieder aufgenommen werden.

Gegen die europäische Migrationspolitik findet die größte Demonstration in Europa am 18.2.2017 in Barcelona statt. 300.000 Teilnehmende gehen für die Aufnahme von Geflüchteten, für sichere Fluchtwege und Bewegungsfreiheit auf die Straßen. Zivilgesellschaften der verschiedenen Länder arbeiten solidarisch zusammen und skandalisieren die mörderische Abschottung der EU. Sie treten aber auch für soziale Gerechtigkeit ein.

Wir fordern sichere Migrationswege für alle und weisen die politisch Verantwortlichen darauf hin, dass die Migration trotz stetiger Investitionen in Überwachung, Militarisierung und Abgrenzungen weiter gehen wird. Marokko ist die Grenze der EU, die bereits am längsten militarisiert ist. Dennoch nehmen sich die Menschen weiter ihr Recht auf Bewegungsfreiheit.

Ob in Marokko, in Kamerun oder in Spanien: Es geht um gleiche soziale Rechte für die Menschen, egal wo sie leben.

[This text is part of the recently published Alarm Phone brochure “In solidarity with migrants at sea!]

Zahlen und Statistiken entnommen aus:

APDHA 2016: Balance Migratorio Frontera Sur 2016. URL: https://apdha.org/media/Balance-migratorio-16-web.pdf und IOM 2017: URL: https://missingmigrants.iom.int/mediterranean

weiterführende Literatur:

Voices of the borders – Voix des frontieres 2016. URL: https://beatingborders.files.wordpress.com/2016/10/title-image-brochure-voix-des-frontieres.jpg

 “Das schlimmste ist, wenn du die Marine Royale vor Dir hast […]. Sie kommen sogar ins spanische Gewässer, um uns von dort nach Marokko zurückzubringen […]. Und wenn sie kommt, um uns mitzunehmen, schlägt das Wasser Wellen von ihrem großen Boot. Mit dem Schlauchboot kann es dann passieren, dass wir umkippen. Das ist gefährlich, […] wenn du keine Schwimmweste hast oder keinen Schwimmring, dann stirbst du. Denn sie werden dich nicht schützen, sie werden nicht intervenieren. Die Leute haben große Angst in dem Moment, wenn das große Boot der Marine Royale kommt. Wir hatten solche Fälle: Leute, die vor den Augen der marokkanischen Marine ins Wasser gefallen sind. So oft kommen die Leute vom Wasser zurück und sagen, dass eine Person fehlt, dass diese Person ins Wasser gefallen sei, als die Marine gekommen ist, um sie abzufangen.“ (Interview mit Fadel Fadiga vom 11.2.2016, Tanger).

[1]Alarmphone: Statement 26th of June 2016: Three deaths in the straight of Gibraltar caused by the arrival of the Marine Royale (Moroccan Navy), URL: https://alarmphone.org/en/2016/06/27/statement-26th-of-june-2016-three-deaths-in-the-straight-of-gibraltar-caused-by-the-arrival-of-the-marine-royal-moroccan-navy/?post_type_release_type=post

Tag des Protests anlässlich des zweiten Jahrestages des ‘Tarajal Falls’ in Rabat, 6. Februar 2016. Photo: Alarm Phone

 

Proteste gegen Pushbacks in Ceuta, 119 Bozas, April 2016. Photo: Alarm Phone