Das Alarm Phone nach 3 Jahren widerständigen Handelns im Mittelmeer

Maurice Stierl

Welcome United Demo Berlin

Fähren statt Frontex-Motivwagen auf der We’ll Come United Demonstration in Berlin am 16. September 2017 (Photo: Mazlum Demir)

Am 25. Juni 2017 erreichte das Schichtteam des Alarm Phones, wie schon so oft zuvor, eine Nachricht von Pater Mussie Zerai. Er war von einem Boot in Seenot mit etwa 100 Menschen an Bord alarmiert worden. Sie waren in Al-Khums, in Libyen, aufgebrochen und befanden sich zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Einsatzzone der humanitären NGOs. Obwohl wir das Boot immer wieder anzurufen versuchten, war es uns nicht möglich, direkten Kontakt herzustellen. Aber wir konnten Guthaben auf das Satellitentelefon der Reisenden laden, um sicherzustellen, dass sie weiterhin von sich aus telefonieren können würden. Da wir ihr beständig sinkendes Guthaben einsehen konnten, wussten wir, dass sie dieses auch kontinuierlich taten. Wir informierten die italienische Leitstelle für Seenotrettung (MRCC) in Rom. Außerdem kontaktierten wir die Moonbird, die zivile Luftaufklärungsmission, die von der NGO Sea Watch und der Humanitarian Pilots Initiative (HPI) ins Leben gerufen worden war. Wir übermittelten ihnen die GPS Koordinaten des Bootes und sie bestätigten, das Gebiet abzusuchen. Wenig später hob das Leichtflugzeug der NGOs ab, entdeckte schließlich das Boot und leitete die aktuelle Position an uns und die italienischen Behörden weiter. Wir erhielten die Rettungsbestätigung ein paar Stunden später.

Dieser Rettungseinsatz war einer von insgesamt 1840 Fällen, in die das WatchTheMed Alarm Phone in seinen ersten drei Jahren involviert war. Der beschriebene Fall ist wie viele unserer Einsätze exemplarisch für eine neue Form des Aktivismus, in der viele verschiedene, teilweise sich unbekannte Akteure zusammenarbeiten und so eine komplexe Kette der Solidarität bilden, um so schnell wie möglich zu intervenieren und die Menschen bei der Überquerung der maritimen Grenzen zu unterstützen. Pater Zerai, weithin bekannt in ostafrikanischen Gemeinden und der Diaspora, erhielt einen SOS-Anruf und alarmierte eines unserer Schichtteams, mit denen wir aus Europa, der Türkei und in Nordafrika aktiv sind. Während die Rettungsboote der NGOs zu weit entfernt waren, konnten wir die in Malta stationierte Moonbird-Crew alarmieren, eine Suchmission aus der Luft zu starten. Solche neuen, sowohl ‚underground‘ als auch ‚overground‘ operierenden Allianzen entstanden und entstehen, um Geflüchtete und MigrantInnen zu unterstützen – in ihrem Recht auf Bewegungsfreiheit sowie ihrem Recht, sicher anzukommen. Diese solidarische Zusammenarbeit entsteht nicht aus dem Nichts heraus, sondern aus kontinuierlicher Basisarbeit und Engagement im Widerstand gegen Europäische Grenzen.

Unser Alarm Phone wurde am 11. Oktober 2017 drei Jahre alt – am vierten Jahrestag eines dramatischen Schiffsunglücks, bei dem mehr als 260 Menschen ertranken, oder genauer gesagt: dem Tod überlassen wurden. Italienische und Maltesische Behörden waren über die Notlage und die genaue Position informiert, hatten die Rettungsmaßnahmen aber gezielt herausgezögert und sind somit direkt mitverantwortlich für die furchtbaren Geschehnisse. In den letzten drei Jahren haben wir dramatische Entwicklungen erlebt oder waren selbst direkt involviert: Von den zahlenmäßig beispiellosen Grenzübertritten in 2015, als über 1 Million Menschen das Mittelmeer überquerten und weiter quer durch Europa reisten, über die gewalttätigen Versuche, in 2016 die Balkanroute zu schließen sowie die Migrationsrouten über das Ägäische Meer zu kappen, bis hin zu den zynischen Kriminalisierungs- und Denunziationskampagnen in 2017, die sich gegen die NGOs richten, die in der Seenotrettung engagiert sind. Währenddessen stieg und steigt die Todesrate im Mittelmeer weiter – mehr als 11.000 Tote wurden in dieser Periode offiziell dokumentiert, doch wie viele Menschen wirklich ihr Leben verloren haben, bleibt ungewiss.

Momentan stehen wir einer Welle der Repression gegenüber, eine Phase, die als ‚Roll-Back‘ des Europäischen Grenzregimes bezeichnet werden kann. Als Reaktion auf die massenhaften Durchbrüche an den europäischen Grenzen vor allem in 2015 und Anfang 2016, erleben wir nun, wie die EU und ihre Mitgliedsstaaten kein Mittel scheuen, um die Migrationsbewegungen zu blockieren und abzuschrecken: Von Externalisierungsstrategien und intensivierter Kooperation mit verbündeten Diktatoren über die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung und die weitere Militarisierung des Mittelmeers bis hin zur Reorganisierung des Dublin-Rückschiebe-Regimes und erzwungenen Abschiebungen aus EU-Territorium. Während ein Teil der Gesellschaft diesen repressiven Maßnahmen zustimmt, mobilisieren andere – oftmals politisiert durch die massenhaften Ankünfte der letzten Jahre – dagegen. Die ge­gen­wär­tige Situation ist von einer wachsenden Polarisierung der Gesellschaften geprägt.

In diesem Klima der Repression und Verunsicherung, aber auch der kollektiven Mobilisierungen und Kämpfe, werden wir unser Projekt fortsetzen: dokumentierend, Netzwerke stärkend, intervenierend. Die Architekten und Akteure des EU Grenzregimes versuchen all diejenigen, die die Geflüchteten und MigrantInnen auf ihren Routen unterstützen, aus den umkämpften Grenzräumen zu vertreiben. Es soll eine maritime Grauzone geschaffen werden, in der die staatlichen Aktivitäten unbeobachtet bleiben. Eine Grenzzone, in der staatliche Gewalt ausgeübt werden kann, ohne dass es jemand mitbekommt, wo der Tod Tausender keine Aufmerksamkeit mehr erregt und ungestraft bleibt. Vor diesem Hintergrund bleibt es von besonderer Bedeutung, in eben diesen Räumen präsent zu sein, zu beobachten, zuzuhören und Widerstand zu leisten.
Wir sind überzeugt davon, dass Menschen weiter migrieren werden, trotz ‚Roll-Back‘, immer gewalttätigerer Grenzüberwachung und immer gefährlicheren Routen. In Zeiten, die zunehmend geprägt sind von massiven Konflikten, Kriegen und wirtschaftlicher Ausbeutung, bleiben die Gründe für grenzüberschreitende Migration vielfältig. Viele wollen und viele müssen fliehen. Wenn Hunderte die Zäune der Spanischen Enklaven in Marokko – „Boza“ rufend – überwinden oder im Boot in Südspanien ankommen, wenn auf den griechischen Inseln trotz des EU-Türkei Deals weiter Boote anlanden, oder wenn es Tausende schaffen, den grausamen Bedingungen in Libyen zu entfliehen und Italien zu erreichen, dann demonstrieren sie, dass trotz aller Repression Migrationsbewegungen nicht aufgehalten werden können.

Es ist diese Stärke und dieser alltägliche Kampf, diese Hartnäckigkeit und Ausdauer, sich dem bisweilen unüberwindlich erscheinenden Grenzregime nicht zu beugen, die unseren Aktivismus nachhaltig inspirieren. Nicht nur im Mittelmeer, sondern auch viel weiter südlich und östlich, organisieren sich Gruppen in Transit- und Herkunftsländern, um die notwendigen – wenn auch illegalisierten – Grenzüberschreitungen möglich zu machen.

Während die EU überall Hindernisse errichtet, mobilisieren wir auf beiden Seiten des Mittelmeers dafür, Brücken zu schaffen. Die Bedeutung des Alarm Phones lässt sich nicht alleine aus der Anzahl der Notrufe ablesen, sondern misst sich auch an den vielen Initiativen, Netzwerken und Projekten, in die es involviert ist und die es bei ihrer Entstehung unterstützt. Wir werden niemals akzeptieren, dass das Mittelmeer als tödliche Grenzzone fungiert. Vielmehr zielen wir auf einen mediterranen Raum der Begegnung, der gegenseitigen Verbindungen und des Zusammenkommens.

Neben unseren alltäglichen Bemühungen, Menschen auf den Routen mit unserer Hotline zu unterstützen, sind ‚Schwesterprojekte‘ entstanden, u.a. das ‚Desert Phone‘, ‚Missing at the Borders‘ und ‚Boza Tracks’. Diese Projekte werden auch in dieser Broschüre vorgestellt. Zudem sind wir in öffentlichen Kampagnen engagiert, um die dramatische Situation im Mittelmeer zu thematisieren und zu skandalisieren. Jüngste Beispiele: Im September 2017 organisierten unsere tunesischen Alarm Phone Mitglieder*innen eine Konferenz in Tunis, an der migrantische Communities, Aktivst*innen und NGOs aus Nordafrika und anderswo teilnahmen, um über ‚Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum, deren Realitäten und Herausforderungen‘ zu diskutieren. Nur eine Woche vorher haben wir uns – mehr als 1.500 Kilometer entfernt – in Berlin an der großen Demonstration von ‚We’ll Come United‘ beteiligt, in Erinnerung an den ‚Marsch der Hoffnung‘, mit dem vor zwei Jahren verschiedene Europäische Grenzen überwunden und der ‚lange Sommer der Migration‘ eingeleitet wurde, der Europa nachhaltig verändern sollte.

So wie die heterogene Zusammensetzung des Alarm Phone Netzwerks selbst, stellt auch diese Broschüre eine vielfältige Collage dar. Sie bietet Analysen der Situationen in den drei Hauptregionen des Mittelmeers sowie Reflektionen einiger erinnerungswürdiger Erfahrungen der letzten drei Jahre. Sie enthält Interviews, in denen einige unserer Aktivist*innen, Freund*innen, Kontaktpersonen oder Reisenden, mit denen wir in den Notsituationen in Kontakt waren, zu Wort kommen. Und sie gibt einen Einblick in die verschiedenen Netzwerke und Schwesterprojekte, in die das Alarm Phone involviert ist.

Let’s keep moving.
Das WatchTheMed Alarm Phone

[Dieser Text ist Teil der kürzlich erschienenen Broschüre “In Solidarität mit Migrant*Innen auf See  -3 Jahre Alarm Phone”]

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