Alarm Phone 6 Week Report, 12 November - 23 December 2018
Vollständiger Bericht auf englisch hier.
311 Menschen aus Libyen geflohen und mittels einer Kette der Solidarität gerettet +++ Rund 113.000 Seeüberquerungen und über 2.240 gezählte Todesfälle im Mittelmeerraum in diesem Jahr +++ 666 Alarm Phone-Notrufe im Jahr 2018 +++ Entwicklungen in allen drei Mittelmeerregionen +++ Zusammenfassungen von 38 Alarm Phone-Notfruffällen
Einleitung
“Es gibt keine Worte, die den Wert Eurer Arbeit, die Ihr leistet, angemessen beschreiben könnten. Es ist ein zutiefst menschlicher Akt und wird nie vergessen werden. Euer ganzes Team soll wissen, dass wir allen Gesundheit und ein langes Leben und die besten Wünsche in allen Farben der Welt wünschen.” Das sind die berührenden Worte, die das Alarm Phone vor einigen Tagen von einem Mann erhielt, der auf einem Boot im westlichen Mittelmeer unterwegs war. Unsere Schichtteams waren die ganze Nacht mit ihm in Kontakt geblieben, bis das Boot schließlich nach Spanien gerettet wurde. Er hatte seine Mitreisenden immer wieder beruhigt und damit Paniksituationen auf dem Boot verhindert. Seine Botschaft motiviert uns, auch 2019 alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Menschen zu unterstützen, die nur deshalb auf dem Meer unterwegs sind, weil das europäische Grenzregime sichere und legale Passagen verunmöglicht hat. Auf den verbliebenen gefährliche Routen über See haben in diesem Jahr über 2.240 Menschen ihr Leben verloren.
Während wir diesen Bericht schreiben, fahren 311 Menschen mit dem Rettungsschiff der NGO Proactiva Open Arms nach Spanien. Die Reisenden riefen unsere Hotline an, als sie in einem Bootskonvoi von Libyen aus gestartet waren. Basierend auf den Angaben über ihre Position, nahe Al-Khums, startete das zivile Aufklärungsflugzeug Colibri am Morgen des 21. Dezember eine Suchaktion und konnte den Konvoi der drei Booten finden, die schließlich von Proactiva gerettet wurden. Die Regierungen von Italien und Malta schlossen erneut ihre Häfen für die Geretteten und verlängerten damit deren Odyssee. Über die Weihnachtstage machten sie sich auf den Weg zu einem sicheren Hafen in Spanien. Die erfolgreiche Rettungsaktion der 313 Menschen (eine Mutter und ihr Kleinkind wurden nach der Rettung mit einem Hubschrauber ausgeflogen) belegt das Potential der Kette der Solidarität, die AktivistInnen und NGOs im zentralen Mittelmeer geschaffen haben. Es ist eine fragile Kette, die ständig mit Kriminalisierung konfrontiert ist und die die EU und ihre Mitgliedsstaaten auseinander zu reißen versuchen, wo immer sie können.
Im Laufe des Jahres 2018 wurden wir (einmal mehr) zu ZeugInnen des umkämpften Raumes im Mittelmeer und wir haben die Bewegungen der Migration unterstützt, so gut es uns möglich war. Trotz aller gewaltsamen Maßnahmen und Praktiken der Abschreckung gelang es etwa 113.000 Menschen, die Seegrenzen zu überwinden und mit Booten nach Europa zu gelangen. Das Alarm Phone erhielt 2018 (bis zum 23. Dezember) insgesamt 666 Notrufe von Menschen auf See und unsere Schichtteams haben ihr Bestes gegeben, um die vielen tausend Menschen zu unterstützen, die keine andere Möglichkeit sahen, ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verwirklichen, als ihr Leben auf See zu riskieren. Viele von ihnen verloren ihr Leben im Kampf um Bewegungsfreiheit. Über 2.240 Frauen, Männer und Kinder aus dem globalen Süden – und wahrscheinlich noch viele mehr, die nie gezählt wurden – sind wegen der Gewalt, die in den hegemonialen und brutalen Grenzen des globalen Nordens eingeschrieben ist, nicht mehr unter uns. Sie konnten kein Visum bekommen. Sie konnten nicht in ein viel billigeres Flugzeug, einen Bus oder eine Fähre steigen, um einen Ort der Sicherheit und Freiheit zu erreichen. Viele reisten monatelang, ja sogar jahrelang, um an die Mittelmeergrenze zu gelangen – und auf ihren Reisen haben sie Schwierigkeiten erlebt, die für die meisten von uns unvorstellbar bleiben. Aber sie kämpften weiter und erreichten die Küsten Nordafrikas und der Türkei, wo sie auf überfüllte Boote stiegen. Dass sie nun nicht mehr unter uns sind, ist die Folge des rassistischen Systems der Segregation in Europa, das Migration illegalisiert und kriminalisiert. Es ist dasselbe System, das darauf abzielt, Solidarität zu illegalisieren und zu kriminalisieren. Viele dieser 2.240 Menschen wären am Leben, wenn die zivilen RetterInnen nicht an ihrer Arbeit gehindert würden. Sie alle wären am Leben, wenn sie frei reisen und sicher die Grenzen überschreiten könnten.
In den verschiedenen Regionen des Mittelmeeres hat sich die Situation im Laufe des Jahres 2018 massiv verändert, und das Alarm Phone hat die sich ändernden Muster der Bootsmigration aus erster Hand miterlebt. Die meisten der von uns unterstützten Boote befanden sich zwischen Marokko und Spanien (480), eine beträchtliche Anzahl zwischen der Türkei und Griechenland (159), aber vergleichsweise wenige zwischen Libyen und Italien (27). Dies entspricht der sich ändernden Dynamik der Fluchtmigration und ihrer Kontrolle in den verschiedenen Regionen:
Marokko-Spanien: Tausende von Booten schafften es über die Straße von Gibraltar, das Alboran-Meer oder den Atlantik und haben Spanien in diesem Jahr mit rund 56.000 Ankünften auf dem Seeweg zum “Spitzenreiter” gemacht. Im Jahr 2017 waren 22.103 Menschen in Spanien gelandet, 2016 waren es 8.162. Im westlichen Mittelmeer sind die Überfahrten eher selbstorganisiert, und die Zahl der Ankünfte spricht für eine Migrationsdynamik, die im letzten Jahrzehnt in dieser Region so bislang nicht zu sehen war. Die Solidaritätsstrukturen haben sich sowohl in Marokko als auch in Spanien vervielfacht, und sie werden trotz der Welle der Repressionen, die auf den Höhepunkt der Überfahrten im Sommer folgten, nicht aufgeben. Mehrere Mitglieder des Alarm Phones haben persönlich die Folgen des EU-Drucks auf die marokkanischen Behörden erlebt, grenzüberschreitende Bewegungen zu unterdrücken, als sie gewaltsam in den Süden Marokkos abgeschoben wurden. Mehrere Tausend Menschen waren von diesen Maßnahmen betroffen.
Türkei-Griechenland: Mit etwa 32.000 Menschen, die es mit Booten auf die griechischen Inseln schafften, sind mehr Menschen in Griechenland angekommen als 2017, als 29.718 Menschen anlandeten. Nach der Ankunft über das Meer sind viele von ihnen unter unmenschlichen Bedingungen auf den Inseln eingesperrt, und die EU-Hotspots haben sich in dauerhafte Gefängnisse verwandelt. Diese verzweifelte Situation hat dazu geführt, dass weitaus mehr Menschen versucht haben, sich über die türkisch-griechische Landgrenze im Norden durchzuschlagen. Insgesamt ist die Zahl der illegalisierten Einreisen nach Griechenland gestiegen, da mehr als 20.000 Menschen diese Landgrenze überschritten haben. Mehrere Fälle von Personen, die dort illegale Push-Back-Operationen erlebt haben, erreichten im Laufe des Jahres das Alarm Phone.
Libyen-Italien/Malta: Lediglich etwa 23.000[1] Menschen ist es gelungen, 2018 über das Meer nach Italien zu fliehen. Der Rückgang ist dramatisch, von 119.369 im Jahr 2017 und sogar 181.436 im Jahr 2016. Dieser Rückgang zeugt von der Rücksichtslosigkeit der Abschreckungspolitik der EU, die die bislang höchste Todesrate im zentralen Mittelmeerraum und unaussprechliches Leid unter den Geflüchteten und MigrantInnen in Libyen verursacht hat. Libysche Milizen werden von ihren EU-Verbündeten finanziert, ausgebildet und legitimiert, um Tausende von Menschen in Lagern zu verhaften und diejenigen, die es auf Boote geschafft haben, abzufangen und in diese Bedingungen zurückzubringen. Aufgrund der Kriminalisierung von zivilen Rettungskräften entstand eine tödliche Rettungslücke, weil keine NGO in der Lage war, ihre Arbeit für einen längeren Zeitraum fortzuführen. Erst zum Ende des Jahres gelang es drei Rettungsorganisationen, in die tödlichste Region des Mittelmeers zurückkehren.
Diese Momentaufnahmen der Entwicklungen in den drei Mittelmeerregionen, die im Folgenden näher erläutert werden, geben einen Eindruck von den vor uns liegenden Kämpfen und Herausforderungen. Sie zeigen, wie die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht nur gefährliche Seewege geschaffen, sondern auch ihr Abschreckungssystem für MigrantInnen um jeden Preis verstärkt haben. Sie zeigen aber auch, dass Tausende nicht davon abgehalten werden konnten, ihre Freizügigkeit zu erkämpfen, und wie sich Solidaritätsstrukturen zur Unterstützung ihrer prekären Bewegungen entwickelt haben. Wir teilen das Versprechen und den Aufruf, den die United4Med-Allianz der Seenotrettungsorganisationen für 2019 veröffentlicht hat: “Wir werden beweisen, dass die Zivilgesellschaft in Aktion nicht nur bereit, sondern auch in der Lage ist, ein neues Europa zu schaffen, Leben auf See zu retten und ein gerechtes Aufnahmesystem an Land zu schaffen. Wir rufen europäische Städte, BürgermeisterInnen, BürgerInnen, Gesellschaften, Bewegungen, Organisationen und alle, die an unsere Mission glauben, zum Handeln auf. Schließen Sie sich unserem zivilen Bündnis an und lassen Sie uns gemeinsam aufstehen und mutig für eine Zukunft voller Respekt und Gleichberechtigung streiten.“ Auch im neuen Jahr wird sich das Alarm Phone weiter in diesen Kampf einbringen und wir rufen alle auf, sich ebenfalls diesem Kampf anzuschließen. Es kann – angesichts der schwierigen Ausgangsbedingungen – nur ein gemeinsamer Kampf sein.
Vollständiger Bericht auf englisch
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