Die italienischen Strafmaßnahmen gegen Sea-Eye sind staatliches Unrecht!

Am 14. Juni 2023 sind vermutlich über 600 Männer, Frauen und Kinder, die aus Libyen geflohen waren, bei einem der größten Schiffsunglücke der vergangenen Jahre in der Nähe der griechischen Insel Pylos ertrunken. Wenige Wochen zuvor, am 23. Mai 2023, wurden 500 Menschen, die es mit einem Boot bereits in die maltesische Such- und Rettungszone geschafft hatten, von der berüchtigten libyschen Miliz Tariq Ben Zeyad[1] nach Benghazi zurück verschleppt. Einige der damaligen Bootsinsassen sind bei ihrem zweiten Überfahrtsversuch auf dem Boot vor Pylos ertrunken. Zwischen Sterben-Lassen und illegalen Push-Backs: die Risiken für Schutzsuchende und Migrant:innen auf der Flucht aus Libyen sind groß und die Opferzahlen wären noch weitaus höher, wenn nicht eine zivile Flotte zur Seenotrettung im Dauereinsatz wäre. Doch diese Rettungsschiffe werden von der italienischen Regierung systematisch schikaniert und kriminalisiert. So verbietet das neue Piantedosi Dekret Rettungsorganisationen, nach der Zuweisung eines sicheren Hafens weitere Menschen in Seenot zu retten. Die daraus folgenden Strafmaßnahmen gegen die SEA EYE 4 nach ihrem Einsatz Ende Mai 2023 demonstrieren, wie menschenverachtend die staatlichen Behörden agieren. Das Bemühen der SEA EYE 4, Menschen schnellstmöglich aus Seenot zu retten und illegale Push Backs zu verhindern, kann niemals falsch sein und darf nicht bestraft werden. Das Piantedosi Dekret ist ein menschenfeindliches Gesetz und muss sofort abgeschafft werden.

Ein Schiff der libyschen Tarek Ben Zayed Miliz bei einem Push-Back im Juni 2023 fotografiert aus der Sea-Bird 2. Copyright: Tian Sthr/Sea-Watch

Die Ausgangslage am 30. Mai 2023

Am 30. Mai 2023 war die SEA-EYE 4 mit 17 am Vortag geretteten Menschen auf dem Weg zum noch mehrere hundert Kilometer entfernten Ortona. Diesen Hafen sollte die SEA-EYE 4 nach Anweisung der Küstenwache schnellstmöglich anfahren, laut dem im Februar 2023 in Kraft getretenen sogenannten Piandosi-Dekret. In dieser Situation erhielt gegen 10:00 Uhr die SEA-EYE 4 die SOS-Email der Telefon-Hotline Alarm Phone. Ein Boot mit rund 400 Menschen (mit der Bezeichnung AP0741) befände sich in der maltesischen Such- und Rettungszone in Seenot.

Die Erfahrung des illegalen Push-Backs

Exakt eine Woche zuvor, am 23. Mai 2023, hatte sich in der gleichen Region Folgendes ereignet: 500 Menschen waren mit einem Fischerboot aus Libyen in Richtung Europa geflohen. Sie erreichten etwa die Mitte der maltesischen Such- und Rettungszone – also über 320 Kilometer von der libyschen Küste entfernt – als der Motor des Bootes ausfiel. Das Boot trieb manövrierunfähig auf dem Meer. Obwohl die europäischen Küstenwachen vom Alarm Phone über den Seenotrettungsfall sofort informiert wurde, bleiben die verantwortlichen Behörden untätig. Und dann: das Boot wurde am nächsten Morgen offensichtlich von libyschen Milizen eingeholt und zurück geschleppt. Viele der 500 Menschen verschwanden in Haftlagern in Benghazi. Es handelt sich hierbei eindeutig um unterlassene Hilfeleistung sowie einen illegalen Push-Back, also einen eklatanten Bruch von internationalen Asyl- und Menschenrechten.

Das Boot in Seenot vom 30.5.23, welches von der SEA-EYE 4 gesucht wurde. Copyright: Sea-Watch

Die einzig richtige Entscheidung

Vor dem Hintergrund dieser konkreten Erfahrung entschied der Kapitän der SEA-EYE 4, dem Alarm für den Seenotrettungsfall AP0741 zu folgen und die Route nach Norden zum Zweck der schnellstmöglichen Hilfeleistung zu unterbrechen. In jedem Moment hätte der Motor des überladenen Kutters ebenfalls ausfallen können und den 400 Menschen hätte womöglich das gleiche Schicksal gedroht wie den 500 Menschen in der Woche zuvor oder noch schlimmer: sie hätten untergehen können, wie das sehr ähnlich gebaute Boot nahe Pylos.

Gegen Mittag des 30. Mai konnte das Aufklärungsflugzeug Seabird 2 der Organisation Sea-Watch das Boot mit den 400 Menschen lokalisieren. Die Seabird bestätigte in ihren SOS-Emails an die Behörden den Seenotfall. Zu diesem Zeitpunkt war die SEA-EYE 4 noch etwa 300 km von der letzten Position entfernt. Auch weil der Kontakt mit dem Boot über mehrere Stunden am Abend und in der Nacht abbrach, verpasste die SEA-EYE 4 das Boot, das sich erst am nächsten Morgen nahe der italienischen Such- und Rettungszone beim Alarm Phone wieder meldete.

Die SEA-EYE 4 hatte auf ihrer Fahrt zu AP0741 zunächst ein weiteres Boot in Seenot gefunden und weitere 32 Personen gerettet. Mit dann insgesamt 49 geretteten Personen fuhr die SEA-EYE 4 schließlich Richtung Norden nach Ortona.

Die Strafmaßnahmen…

Im Hafen wurde Sea-Eye mit einem Verweis auf das neue italienische Gesetz vom 24.02.2023 darüber informiert, dass die SEA-EYE 4 für 20 Tage in Ortona festgesetzt wird und die Organisation 3333,- Euro Strafe zahlen muss, weil das Schiff nach der Rettung von 17 Menschen in der libyschen Such- und Rettungszone 32 weitere Menschen in der maltesischen Such- und Rettungszone rettete und nicht so schnell wie möglich den Hafen von Ortona angefahren habe.

… ein Skandal staatlichen Unrechts

Wir halten diese Bestrafung und das zu diesem Zweck erlassene Dekret der italienischen Regierung für einen Skandal. Es dient alleine dazu, Rettungsschiffe abzuschrecken und zu kriminalisieren – Rettungsschiffe, die dort so effektiv wie möglich zu intervenieren versuchen, wo staatliche Küstenwachen der EU seit Jahren bewusst eine oftmals tödliche Lücke produziert haben.

Sea-Eye hatte am 30. Mai die einzig richtige Entscheidung getroffen: einem Seenotfall, zu dem die beiden hier unterzeichnenden Organisationen alarmiert hatten, so schnell wie möglich zu Hilfe zu eilen, zumal mit einem erneuten illegalen Push-Back-Versuch zu rechnen war. Dieses vorbildliche Verhalten mit Strafmaßnahmen zu belegen, kann nur als zynisch und menschenverachtend bezeichnet werden.

Sea Watch und Alarm Phone

 

 

 

 

 

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[1] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2022/12/libya-hold-commanders-of-tariq-ben-zeyad-armed-group-accountable-for-catalogue-of-horrors/