Internationaler Tag der Migrant*innen: Europa, es gibt nichts zu feiern!

Foto: Alarm Phone

Vor einem Jahr, am 18. Dezember 2019, erklärte die Europäische Kommission:

“Am Internationalen Tag der Migranten bekennen wir uns unmissverständlich dazu, die Würde, die Menschenrechte und die Grundfreiheiten aller Migranten zu respektieren und zu schützen sowie dafür zu sorgen, dass Migration sicher, geordnet und gut gesteuert verläuft.”

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Zusammen mit den europäischen Regierungen feiern an diesem Tag viele internationale Organisationen, darunter die Internationale Organisation für Migration (IOM) und der UNHCR, ihre Arbeit zum “Schutz von Migranten und Flüchtlingen”. Leider tragen sie nicht dazu bei, Menschen vor Gewalt an den Grenzen zu schützen, sondern setzen stattdessen alles daran, unerwünschte Migrationsbewegung und das Ankommen von Schutzsuchenden an den Grenzen der EU zu unterbinden und verhindern. Sie ändern nicht die Bedingungen, die Gewalt an den Grenzen erzeugen, sondern verstärken diese: Ihre humanitäre Präsenz an Orten, aus denen Menschen zu fliehen versuchen, spielt eine Schlüsselrolle beim Aufbau des Narrativs von so genannten “sicheren Herkunftsländern“ – Orte, die es definitiv nicht sind, in denen die Menschenrechte nämlich systematisch verletzt werden, der Zugang zu internationalem Schutz vollständig verweigert wird und in die Abschiebungen und “freiwillige Rückkehr” zunehmen.

Heute und jeden Tag sind wir Zeug*innen der Rolle von EU-Regierungen, Institutionen, Agenturen und Organisationen, die diese Gewalt entweder durch Handeln oder vorsätzliche Untätigkeit verüben.

EU, wir feiern eure falschen Bemühungen und leeren Gesten nicht. Heute wie auch an jedem anderen Tag erinnern wir an und kämpfen gegen all die Todesfälle auf See und an den Landgrenzen, sowie gegen die von der EU geförderten Formen der Ausgrenzung in Lagern, in Haftanstalten, auf Quarantäneschiffen und in unmenschlichen Unterkünften innerhalb und außerhalb Europas. Heute und jeden Tag prangern wir an und kämpfen gegen Pushbacks, erzwungene Abschiebungen bezeichnet als “freiwillige Rückkehr”, gegen den Diebstahl der Zeit von Menschen beim jahrelangen Warten auf Asyl oder Umsiedlung und gegen die emotionale Erschöpfung von Menschen durch die Trennung von Familien, Partner*innen und Freund*innen. Heute und jeden Tag kämpfen wir gegen das EU-Visaregime und all die rassistischen Grenzpraktiken, die Migration kriminalisieren, um Menschen um jeden Preis “draußen” zu halten und einige Menschen “hinein” zu lassen – dann jedoch unter ausbeuterischen und unmenschlichen Bedingungen. Heute und jeden Tag sind wir Zeug*innen der Rolle von EU-Regierungen, Institutionen, Agenturen und Organisationen, die diese Gewalt entweder durch Handeln oder vorsätzliche Untätigkeit verüben. Sie töten Menschen. Sie foltern Menschen. Sie lassen Menschen verschwinden. Jeden einzelnen Tag.

Heute gibt es nichts zu feiern.

Um diese Heuchelei sichtbar zu machen, haben wir genau diesen Tag gewählt, um einen offenen Brief an die Behörden zu schreiben, um sie mit ihrer Verantwortung im Fall eines der vielen bekannten, aber totgeschwiegenen Schiffsunglücke des Jahres 2020 zu konfrontieren: das Schiffsunglück vom 9 Februar vor Garabulli, Libyen. Seit diesem Vorfall sind 91 Menschen verschollen. Ihre Familien suchen immer noch nach ihnen und fragen die Behörden, was an diesem Tag passiert ist (2). Die einzige Reaktion, die sie bislang erhalten haben, ist Ablehnung und Leugnung. Diese Weigerung, den Anfragen nachzugehen und Informationen preis zu geben und das damit einhergehende Verschweigen des Schmerzes der Angehörigen von Vermissten, ist eine zusätzliche Form der Gewalt des EU-Grenzregimes. Dieser Schmerz betrifft ganze Communities und das Schweigen führt dazu, das Leben der Angehörigen unerträglich zu machen.

Aufruf zum Handeln

Finde hier den offenen Brief an die Italienischen, Maltesischen und Libyschen Behörden, an Frontex, IOM und den UNHCR. Am 9. Februar 2021, dem Jahrestag des Verschwindens der Menschen, organisieren wir gemeinsam mit Familien und Freund*innen der Vermissten Gedenkaktionen in mehreren Städten und Orten. Um ihnen zu gedenken, um die Fortsetzung der Suche nach ihnen einzufordern und um die Behörden aufzufordern, ihr Schweigen zu brechen und um dem Sterben auf See endlich ein Ende zu setzen. Bitte kontaktiere uns unter media(att)alarmphone.org, wenn du an einer dieser Veranstaltungen teilnehmen oder am 9. Februar 2021 selbst eine Gedenkaktion für die Vermissten organisieren willst.