Besonders unvergessliche Alarm-Phone-Fälle

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Dieser Artikel erschien ursprünglich in “From the Sea to the City – 5 Jahre Alarm Phone

Photo: Fabian Heinz / sea-eye.org

Es ist uns leider unmöglich, uns an jeden einzelnen Fall zu erinnern, da
 unser grosses Netzwerk seit fünf Jahren fast täglich, zumindest wöchentlich, Seenotanrufe erhält. Die Tausende von Fällen, an denen wir gearbei
tet haben, wurden von einer Vielzahl von Mitgliedern aus unterschiedlichen Schichtteams begleitet. Einige der Seenotsituationen haben tiefe
 Eindrücke hinterlassen, wohingegen andere mit der Zeit verblasst sind.
Wir haben Sprachnachrichten und Videos erhalten, auf denen die Reisenden ihre Ankunft in Europa feierten. Wir haben erlebt, wie Menschen
 nach Stunden auf See ohne Aussicht auf Rettung panisch wurden. Und
 wir mussten erleben, wie die Kommunikation zu Booten abbrach und wir
 Stunden später herausfanden, dass diese Menschen es nicht geschafft,
 sondern ihr Leben verloren hatten. Wir können der Vielfältigkeit unserer
 Erfahrungen und Eindrücke in diesem Text nicht gerecht werden. Trotzdem möchten wir hier einige der aktuellen Fälle aus allen drei Regionen beschreiben, die für viele von uns bedeutsam waren.

Zentrales Mittelmeer

„Ich bin sehr müde … wir sind allein hier auf dem Meer“

Am 29. Mai 2019 wurden wir abends von einem Verwandten eines Migranten angerufen, der sich im zentralen Mittelmeer auf einem Boot befand. Auf diesem Boot waren circa 100 Menschen. Als wir die Migrant*innen um 22:00 Uhr telefonisch erreichten, sagten sie uns, sie befänden sich auf einem Schlauchboot und ihr Motor funktioniere nicht mehr. Sie seien einen Tag zuvor in Libyen aufgebrochen. Sie hatten Angst vor dem Wasser, das in ihr Boot lief. Sobald wir ihre GPS-Position bekommen hatten, informierten wir die italienische Seenotrettungsstelle MRCC Rom. Die Beschreibung – ein schwarz-weisses Schlauchboot – passte zu der Beschreibung eines Bootes, das von dem NGO-Flugzeug „Moonbird“ schon am Morgen gesichtet worden war. Das bedeutete, dass die italienischen Behörden schon seit dem Morgen über diesen Seenotfall informiert waren.

Um 23:40 Uhr riefen uns die Menschen auf dem Boot erneut an. Sie baten dringend um Rettung, sie waren sich sicher, es nicht bis zum nächsten Morgen zu schaffen: „Ein Teil des Schlauchboots ist geplatzt, Wasser dringt in das Boot ein, wir können nicht mehr lange überleben … Wenn wir die ganze Nacht warten müssen, wird niemand von uns überleben. Wir wissen nicht, wie viel Batterie unser Telefon noch übrig hat.“ Um 00:11 Uhr informierten wir auch die Seenotrettungsstelle in Malta über die Situation, und zwei Minuten später sprachen wir wieder mit den Menschen auf dem Boot: „Es ist viel zu kalt. Die Kinder leiden unter der Kälte, wir haben Angst um sie. Sie sind nass und frieren. Hier sind 15 Kinder, das jüngste ist neun Monate alt, auch Drei- und Vierjährige sind bei uns. Wir haben versucht, die Kinder in eine Ecke des Bootes zu bringen, in dem weniger Wasser ist. Hier sind auch ungefähr 20 Frauen an Bord. Die Frauen sind stark, aber eine von ihnen ist schwanger, und sie ist sehr krank.“ Wir erklärten ihnen, dass wir die maltesischen Behörden informiert hätten und dass sie stark bleiben müssten. Wir vereinbarten, in 30 Minuten wieder anzurufen.

Um 00:36 informierten wir MRCC Rom und Malta über die Entwicklungen. Ausserdem entschieden wir uns, eine Medienkampagne zu starten, um die Öffentlichkeit auf unterlassene Hilfeleistung seitens Italiens und Maltas hinzuweisen. Um 00:47 Uhr riefen die Menschen wieder an und meldeten: „Einige Menschen sind in Panik, und andere sind völlig ausser sich vor Angst.“ Um 00:56 Uhr fragten wir bei MRCC Malta nach, welche Schritte sie in die Wege geleitet hätten. Die Beamten waren unkooperativ, sie sagten, sie hätten keine Informationen für uns. Um 00:59 Uhr weigerte sich auch das MRCC Rom, uns Informationen zu geben. Sie bestanden nur darauf, dass sich dieses Boot nicht in italienischen Gewässern befinde.

Um 01:20 Uhr sprachen wir wieder mit den Menschen auf dem Boot – und wieder konnten wir nicht versprechen, wann die Küstenwachen eintreffen würden. Die Person, mit der wir in ständigem Kontakt waren, sagte: „Es ist so verdammt inhuman, was sie uns antun. Wir sind länger als einen Tag hier auf dem Meer. Sie kamen mit Helikoptern, Flugzeugen und allem Möglichen hier vorbei. Sie wissen genau, wo wir sind, aber sie warten nur darauf, dass die Libyer morgen vorbeikommen, um unsere Körper aus dem Meer zu fischen. Diejenigen von uns, die noch am Leben sein werden, werden dann vielleicht auch ins Wasser gehen, weil sie es vorziehen, zu sterben, als nach Libyen zurückgebracht zu werden. Warum lassen sie es nicht zu, dass uns irgendein Fischerboot rettet, um zumindest zu verhindern, dass Menschen sterben? Sie können uns in was auch immer für ein Scheissgefängnis bringen. Aber diese Situation ist so inhuman, du kannst dir nicht vorstellen, was wir erleiden.“ Wir sagten ihm, dass wir bis zum Ende an ihrer Seite bleiben würden, was auch immer passieren würde. Wir versprachen, dass wir wieder die Küstenwachen anrufen und die Öffentlichkeit informieren würden, um den Druck zu erhöhen. Er bedankte sich dafür, dass wir für sie da seien.

Um 02:02 Uhr sprachen wir wieder mit dem Boot: „Die Situation ist wirklich fucked-up. Ich bin mir sicher, bis zum Morgen wird uns niemand retten. Wir versuchen zu überleben, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir das schaffen.“ Wir sagten, es wäre besser, nur noch zu telefonieren, wenn sich an ihrer Situation etwas ändere, damit die Batterie geschont werde. Um 03:14 Uhr sagte er: „Ich bin sehr müde … wir sind alleine auf diesem Meer.“ Um 04:05 Uhr sprachen wir wieder: „Die Sonne ist aufgegangen, aber wir sind immer noch allein, wir können kein Boot sehen.“ Er klang extrem erschöpft; es war ruhig im Hintergrund, als ob sie keine Kraft mehr hätten, in Panik zu geraten. Um 06:04 Uhr erhielten wir eine neue GPS-Position und leiteten sie an Malta weiter. Malta antwortete, dass sie in diesem Fall nichts unternommen hätten, da die libyschen Behörden zuständig seien.

Um 06:37 Uhr riefen uns die Boat People wieder an: „Da ist ein Helikopter über uns, aber nichts auf dem Wasser. Seht ihr ein Boot, das sich uns nähert?“ Wir sagten, wir könnten keine Schiffsbewegungen erkennen.

Um 07:42 Uhr luden wir ihr Satellitentelefon mit neuem Kredit auf. Um 07:50 Uhr sagten sie: „Wir sind so müde.“ Um 08:00 Uhr riefen sie wieder an: „Ein fünf Jahre altes Mädchen ist gestorben.“ Wir hörten Menschen im Hintergrund weinen. „Ein Teil des Bootes verliert Luft. Wir hoffen, ein Boot kann uns erreichen.“

Um 08:19 Uhr riefen die Menschen uns erneut an: „Wir sehen ein Schiff. Es ist weit weg, aber sehr gross. Es kommt aus der Richtung, in der die Sonne ist.“ Es war zu spüren, dass die Menschen aufgeregt wurden. Um 08:24 Uhr sprachen wir wieder mit MRCC Rom – und wieder weigerten sie sich, uns mitzuteilen, ob sie eine Rettungsoperation gestartet hätten oder nicht. Um 08:30 Uhr ein erneuter Anruf des Bootes: „Es steht P490 auf dem Schiff.“ Es handelte sich um ein Boot der italienischen Marine. Wir erklärten den Menschen, wie sie sich auf die Rettung vorbereiten sollten: einer nach dem anderen, Kinder und Frauen zuerst. Um 09:05 Uhr sprachen wir wieder mit den Menschen. Trotz der schlechten Verbindung verstanden wir, dass die Rettungsoperation begonnen hatte. Die Person am Telefon sagte: „Goodbye.“

Um 09:40 Uhr bestätigte die italienische Presseagentur ANSA, dass
 das italienische Marineschiff P490 eine Rettungsmission durchgeführt
habe. MRCC Rom weigerte sich nichtsdestotrotz, die Rettung zu bestätigen, und verwies darauf, dass die Medien über den Fall berichten würden.
 Die Menschen wurden dann später in Genua an Land gebracht und berich
teten, dass einige während dieser Reise ihr Leben verloren hätten.

Photo: Fabian Heinz / sea-eye.org

Westliches Mittelmeer

„Ich bin einer von drei Männern, die das Schiffsunglück überlebten”

Am 1. Mai 2019 um 05:27 Uhr erhielten wir die Nachricht, dass über zwölf Menschen vermisst würden. Sie hatten Marokko früher in derselben Nacht verlassen. Die zuständigen Stellen in Marokko und Spanien wurden von uns informiert und starteten eine Rettungsoperation für das Boot. Trotzdem blieb es verschwunden. Es wurde schliesslich erst am Nachmittag des 2. Mai gefunden. Zu der Zeit waren aber schon acht Personen über Bord gegangen und ertrunken. Während der Rettungsoperation starb eine weitere Person, eine Frau, die wahrscheinlich schwanger war.

Die drei Überlebenden wurden in ein Krankenhaus gebracht. Da sie Angst hatten, dass die Polizei kommen würde, verliessen sie das Krankenhaus. Sie verstecken sich jetzt. Am 2. Mai um 23:30 Uhr war es uns möglich, mit einem der Überlebenden zu sprechen. Hier ist seine Aussage:

„Ich bin einer von den drei Männern, die das Unglück vom 1. Mai überlebt haben. Wir sind mit einer Gruppe von zwölf Leuten am 1. Mai um 01:00 Uhr marokkanische Zeit von Tanger aus gestartet, zehn Männer und zwei Frauen. Die neun Menschen, die starben, kamen aus dem Senegal. Sie alle stammten aus demselben Dorf und waren eng befreundet. Sie taten alles zusammen, sie schliefen zusammen, assen zusammen, mir schienen sie wie Brüder zu sein.

Wir kontaktierten euch (das Alarm Phone) am frühen Morgen des 1. Mai. Als ich versuchte, die GPS-Position von meinem Smartphone aus zu schicken, brachte eine grosse Welle das Boot zum Kentern. Wir fielen ins Wasser, und das Smartphone wurde nass. Also konnte ich es nicht mehr benutzen. Wir schafften es, dass Boot umzudrehen und wieder hineinzuklettern. Wir verloren drei Menschen und auch unsere Paddel. Das Boot kenterte dann noch einmal. Wir verloren zwei weitere Menschen. Und wieder schafften wir es, das Boot umzudrehen und wieder hineinzukommen.

Wir wussten, dass wir in internationalen Gewässern waren. Wir konnten die marokkanische Küste sehen und fuhren weiter und immer weiter aufs offene Meer. Das Boot kippte ein drittes Mal um. Wieder schafften wir es, in das Boot zu kommen.


Am Morgen sahen wir grosse Containerschiffe, aber sie bemerkten uns nicht, obwohl ich mit meinen roten Kleidern winkte und schrie. Und wieder kenterte unser Boot. Wir hatten keine Kraft mehr, das Boot nochmals umzudrehen, und sassen auf dem Boden unseres Bootes, welches nach oben zeigte. Zwei weitere Menschen starben. Wir kämpften um unser Leben.

Am nächsten Tag, am 2. Mai, gegen Mittag, wurden wir von einem grossen, weissen Schiff mit spanischen Buchstaben darauf gefunden, vielleicht einem Fischerboot. Wir waren nur noch vier Überlebende, drei Männer und eine Frau. Die Crew des grossen, weissen Schiffes sagte uns, wir sollten auf Rettung warten, und informierte die marokkanische Marine. Wir hatten keine Kraft mehr.


Die marokkanische Marine kam zwischen 13:00 und 15:00 Uhr und begann die Rettung, indem sie ein Seil zu unserem Boot warf. Ich war der Erste,
der gerettet wurde. Dann wollten sie den zweiten Überlebenden herausholen. Die Wellen waren sehr hoch, und unser Boot drehte sich wieder. Der Mann und die Frau, die noch auf dem Boot waren, fielen ins Wasser. Der Mann konnte noch das Seil festhalten und so gerettet werden. Die Frau wurde von den Wellen weggetragen. Ein Mann von der marokkanischen Marine sprang ins Wasser, um ihr zu helfen, aber die Frau war verschwunden. Danach brachten sie uns ins Krankenhaus. Wir konnten uns nicht mehr bewegen. Wir waren so müde. Ich wusste nicht, in welcher Stadt sich das Krankenhaus befand.“

Ägäis

„Sie riefen: ‘Wir werden euch retten. Folgt uns’.“

Am 11. April 2019 kontaktierte uns ein Boot, das von der Türkei aus in Richtung der griechischen Insel Agathonisi losgefahren war. Es waren 35 Menschen an Bord, die aus Syrien, Irak, Palästina und Somalia geflohen waren. In der Gruppe befanden sich zehn Kinder, darunter einige Kleinkinder, und fünf Frauen. Es waren Menschen mit schweren Kriegsverletzungen an Bord. Das Boot befand sich in schwerer Seenot und war eindeutig in griechischen Gewässern. Bei diesem Fall wurde unser Schichtteam Zeuge eines „Refoulements“ – einer von der Genfer Flüchtlingskonvention verbotenen Rückschiebung in den Staat, aus dem die Menschen geflohen waren.

Unser Schichtteam informierte sofort die griechische Küstenwache über die Situation. Die Teammitglieder blieben in Kontakt mit dem Boot und erhielten kontinuierlich GPS-Positionen von den Reisenden. Obwohl sie der griechischen Küstenwache alle Positionen weitergaben, teilte diese mit, dass das Boot in türkischen Gewässern „gefunden“ worden sei.

Die Aussagen der Reisenden widerlegten diese Behauptung. Sie beschrieben im Gegenteil, wie die griechische Küstenwache die Menschen täuschte: Sie gab vor, sie nach Griechenland in Sicherheit zu geleiten, tatsächlich aber fuhr das Küstenwachenboot zurück in türkische Gewässer. Als die Reisenden dies merkten, versuchten sie, umzudrehen und wieder Richtung Griechenland zu fahren. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits türkische Gewässer erreicht, und die griechische Küstenwache verhinderte ihre Flucht. Sie überliess es der türkischen Küstenwache, die Rettungsoperation durchzuführen. In ihrer Aussage beschrieben die Menschen an Bord, wie sie zurückgeschoben wurden.

„Wir sind gegen 03:30 Uhr MEZ von der türkischen Küste aus losgefahren. Nach drei Stunden Fahrt, erst in Richtung Nera/Agathonisi und später eher Richtung Farmakonisi, wurden wir um 05:50 Uhr MEZ von der griechischen Küstenwache gestoppt. Es war sehr kalt, und unsere Kinder weinten vor Angst. Die Wellen schwappten Wasser in unser Boot. Es war ein grau-weisses Schiff der Küstenwache. Darauf befanden sich vier Offiziere in blauer Uniform. Sie fuhren in Zirkeln um unser Boot herum. Sie riefen: „Wir werden euch retten. Folgt uns.“ Sie bedeuteten uns, in die andere Richtung zu fahren. Wir waren verwirrt und folgten ihnen ein kurzes Stück. Dann stoppten wir. Wir verstanden, dass wir zurückfuhren. Sie befahlen uns, unseren Motor zu stoppen. Wir fragten sie nach Hilfe. Wir streckten ihnen unsere Kinder in der Luft entgegen und flehten sie an, uns in Griechenland bleiben zu lassen. Aber sie sagten, wir würden etwas Illegales tun. Nach einer halben Stunde kam ein türkisches Küstenwachenschiff, und die Griechen verschwanden. Wir wurden zu einer türkischen Polizeistation gebracht. Es war eine anderthalbstündige Fahrt zurück. Sie sagten uns, wenn wir noch ein Mal versuchen würden, illegal nach Griechenland zu reisen, würden sie uns zurück in unsere Heimatländer deportieren.“

Photo: Sea-Watch e.V. / HPI