Mehr Tote im Mittelmeer durch neues italienisches Regierungsdekret

Artwork of “Porta d’Europa” and Lampedusa Cemetery, 2022. Photo: Alarm Phone

Wir, zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für Such- und Rettungsaktivitäten im zentralen Mittelmeer einsetzen, sind äußerst besorgt über den jüngsten Versuch einer europäischen Regierung, zivile Seenotrettungsorganisationen daran zu hindern, Menschen aus Seenot zu retten.

Ein neues Gesetzesdekret, das am 2. Januar 2023 vom italienischen Präsidenten Sergio Mattarella unterzeichnet wurde, wird die Rettungskapazitäten auf See reduzieren und damit das zentrale Mittelmeer, eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt, noch gefährlicher machen. Das Dekret zielt vordergründig auf Seenotrettungsorganisationen ab, doch den wahren Preis werden die Menschen zahlen, die über das zentrale Mittelmeer fliehen müssen und in Seenot geraten.

Seit 2014 füllen zivile Rettungsschiffe die Lücke, die europäische Staaten nach der Einstellung ihrer staatlich geführten Seenotrettungseinsätze bewusst hinterlassen haben. Zivile Organisationen haben seitdem eine wesentliche Rolle dabei gespielt, diese Lücke zu schließen und weitere Tote auf See zu verhindern, wobei sie sich konsequent an geltendes Recht halten.

Trotzdem haben EU-Mitgliedstaaten – allen voran Italien – jahrelang versucht, zivile Such- und Rettungsaktivitäten durch Diffamierung, administrative Schikanen und Kriminalisierung von Seenotrettungsorganisationen und Aktivistinnen zu behindern.

Es gibt bereits einen umfassenden Rechtsrahmen für Such- und Rettungsmaßnahmen, nämlich das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) und das Internationale Seenotrettungsübereinkommen (SAR-Konvention). Die italienische Regierung hat jedoch eine weitere Reihe von Vorschriften für zivile Rettungsschiffe eingeführt, die Rettungsmaßnahmen behindern und Menschen in Seenot weiter gefährden.

Unter anderem verlangt die italienische Regierung von zivilen Rettungsschiffen, dass sie nach jeder Rettung sofort nach Italien fahren. Dies verzögert weitere Rettungsaktionen, da die Schiffe in der Regel mehrere Rettungseinsätze über einige Tage hinweg durchführen. Die Anweisung an zivile Seenotrettungsorganisationen, sofort einen Hafen anzulaufen, während sich andere Menschen in Seenot befinden, widerspricht der im SRÜ verankerten Pflicht von Kapitän;innen, Menschen in Seenot unverzüglich Hilfe zu leisten.

Dieser Teil des Dekrets wird durch die jüngste Strategie der italienischen Regierung verschärft, häufig weit entfernte Häfen zuzuweisen, die bis zu vier Tage Fahrt von der jeweiligen aktuellen Position des Schiffes erfordern.

Beide Faktoren führen dazu, dass zivile Rettungsschiffe über längere Zeiträume aus dem Rettungsgebiet ferngehalten werden und dort weniger Menschen aus Seenot retten können. Die zivilen Seenotrettungsorganisationen sind aufgrund eines fehlenden staatlichen Seenotrettungsprogramms bereits überlastet, und die geringere Präsenz von Rettungsschiffen wird unweigerlich dazu führen, dass mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken.

Ein weiteres, durch das Dekret aufgeworfenes Problem ist die Verpflichtung, an Bord von Rettungsschiffen Daten von Überlebenden zu sammeln, die beabsichtigen internationalen Schutz zu beantragen und diese Informationen mit den Behörden zu teilen. Es ist die Pflicht von Staaten, Asylgesuche zu registrieren und entsprechende Verfahren einzuleiten, ein privates Schiff ist dafür nicht der geeignete Ort. Wie das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) kürzlich klarstellte, sollten Asylanträge nur an Land bearbeitet werden, nachdem die Geflüchteten an einem sicheren Ort an Land gehen konnten und ihre dringendsten Bedürfnisse erfüllt wurden.[1]

Das italienische Dekret verstößt gegen internationales Seerecht, die Menschenrechte und europäisches Recht und sollte daher eine starke Reaktion der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments, der europäischen Mitgliedstaaten und EU-Institutionen hervorrufen.

Wir, zivile Organisationen, die Seenotrettungseinsätze im zentralen Mittelmeer durchführen und unterstützen, fordern die italienische Regierung auf, ihr neu erlassenes Dekret unverzüglich zurückzuziehen. Wir rufen auch alle Abgeordneten des italienischen Parlaments auf, bei der Abstimmung gegen das Dekret zu stimmen und damit zu verhindern, dass es in ein Gesetz umgewandelt wird.

Wir brauchen keine neue, politisch motivierte Verordnung , die Such- und Rettungsaktivitäten behindert. Stattdessen fordern wir, dass EU-Mitgliedstaaten sich endlich an den bestehenden völkerrechtlichen Rahmen halten und zivilen Seenotrettungsorganisationen ermöglichen, ihre Einsätze ohne staatliche Behinderung durchführen zu können.

 

Unterzeichnende Seenotrettungsorganisationen

EMERGENCY
Iuventa Crew
Mare Liberum
Médecins Sans Frontières/Doctors Without Borders (MSF)
MEDITERRANEA Saving Humans
MISSION LIFELINE
Open Arms
r42-sailtraining
ResQ – People Saving People
RESQSHIP
Salvamento Marítimo Humanitario
SARAH-SEENOTRETTUNG
Sea Punks
Sea-Eye
Sea-Watch
SOS Humanity
United4Rescue
Watch the Med – Alarm Phone

 

Mitunterzeichnende

Borderline-Europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V.
Human Rights at Sea

 

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[1] UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR), Legal considerations on the roles and responsibilities of States in relation to rescue at sea, non-refoulement, and access to asylum, 1. Dezember 2022, abrufbar unter: https://www.refworld.org/docid/6389bfc84.html

Alarmphone on X

Rescued! A group of 7 people called us when in distress in the central #Mediterranean. We alerted relevant authorities as well as the #civilfleet. @SOSMedIntl searched for them and carried out a successful rescue operation!

🆘! 15 people in distress in the Central Med!
A group of people left from Annaba, #Algeria, 3 days ago. Relatives still don't have news from them & fear for their lives. We've alerted authorities several times, but to our knowledge, no search operation has been launched.

«Diese Migration war immer ein ganz normaler Teil unseres Lebens – bis die EU einschritt», sagt der Aktivist Moctar Dan Yayé. Willkürliche Verhaftungen seien die Folge gewesen. «Uns wurde klar, dass wir etwas tun müssen»

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